YOGA ALS VERKÖRPERUNG.

von Mark Stephens – Yoga Journal 01/2018

 

 

Der gemeinsame rote Faden in allen Traditionen und Stilen des Yoga ist die Vorstellung, dass Asana, Pranayama und Meditation uns helfen, zu dem zu erwachen, was wir wirklich sind – und unser Leben in Übereinstimmung mit dieser beständigen Wahrheit zu leben.

Was Yoga von anderen Bewusstseinspraktiken unterscheidet, ist die Tatsache, dass dieses Erwachen im Körperlichen wurzelt: In der unmittelbaren Erfahrung, in diesem Körper-Geist zu sein. Das versetzt jeden einzelnen Menschen in die Lage, die Werkzeuge des Yoga in absichtsvoller Weise für Wachstum und Wandel zu nutzen.

 

Philosophische Wurzeln

Zur gleichen Zeit, in der diese Ideen in Indien entwickelt und im Konzept von Moksha (Befreiung) und Dharma (Lebenszweck) aufs Schönste ausgedrückt wurden, pädierte – scheinbar in einer ganz anderen Welt – auch der griechische Philosoph Plato für eine „gleiche und gesunde Balance zwischen Körper und Geist“.

Sein Lehrer Sokrates fand, dass „kein Bürger das Recht hat, körperliche Ertüchtigung zu vernachlässigen“ und er beklagte: „Welch eine Schande, alt zu werden, ohne jemals die Schönheit und Kraft zu erkennen, zu denen der eigene Körper fähig ist.“

Er selbst übte sich im Tanz, um seinen Körper-Geist zu verfeinern und die körperlich-philosophische Praxis seiner Zeit zu pflegen. „Das beeinflusst auch den Akt des Denkens“, versicherte Sokrates. „Man meint, das Denken bräuchte kaum Unterstützung durch den Körper, doch jeder weiß, dass aufgrund von schlechter körperlicher Gesundheit ernsthafte Fehler im Denken passieren.“

Sowohl klassisches Yoga als auch griechische Philosophie sind tief durchtränkt von einer dualistischen Perspektive, die die materielle Welt als eine Illusion versteht (Maya in den Veden und Upanishaden; Ideenlehre bei Platon). Dennoch finden wir hier einen Pfad zu einem klareren, freieren und besseren Leben, der über die Integration von Körper und Geist zu Klärung und Wandlung führt.

Der Großteil der späteren westlichen Philosophie leugnete dagegen die Wichtigkeit der körperlichen Sphäre – wir sehen das bei Descartes, Kant und Hegel: Sie alle räumen religiösen Doktrinen und gesellschaftlichen Kräften Autorität ein, die typischerweise den Körper verleumden. Eine ähnliche Abwendung vom Körper gibt es auch in fundamentalistischen Formen des Yoga.

Erst im späten 19. Jahrhundert beginnt sich wieder die Erkenntnis durchzusetzen, dass verkörperte Intelligenz sehr wohl eine Rolle dabei spielt, wie man die eigenen Erfahrungen verstehen und sein Leben verbessern kann.

Neue Wege

Als Begründer des philosophischen Pragmatismus und als Pionier der Psychologie versicherte William James um 1900, es gebe einen alles durchdringenden Einfluss des Körpers auf das Bewusstsein. Umgekehrt hätten Gedanken und Emotionen eine körperliche Dimension.

Dabei blieb James der traditionell dualistischen westlichen Denkweise verhaftet, nach der die eigentliche Quelle des Bewusstseins außerhalb des menschlichen Organismus angesiedelt ist. Dennoch verkörpern wir nach seiner Ansicht Erfahrung – und deshalb muss der auf ein besseres Leben ausgerichtete philosophische und psychologische Pragmatismus diese untrennbare Verflechtung von Fühlen und Denken mit unseren Geweben immer berücksichtigen, zum Beispiel indem Körperhaltung und -sprache untersucht werden.

Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey übernahm vieles aus James‘ Denken und entwickelte es weiter. Er verortet das Bewusstsein voll und ganz im Körper-Geist und im Kontext seiner Umgebung und sozialen Beziehungen. Das führt zur Idee eines reflektiven Körperbewusstseins, das offen ist für permanente Entwicklung durch willentliche Anstrengung.

Daher ruft Dewey zu „bewusster Praxis“ auf – und zwar nicht, um eine idealisierte Vorstellung eines wie auch immer gearteten ursprünglichen Wesens zu verwirklichen, sondern um mitten in der Lebensrealität dieses Wesens wirksam zu werden, jetzt und hier.

Persönliches Wachstum im Modernen Yoga

Deweys eigene tägliche Praxis stammte von Frederick M. Alexander, dem Begründer der Alexander-Technik. Sie zielt darauf ab, gewohnheitsmäßige, ungesunde und selbstbegrenzende Muster des Körper-Geists zu erkennen und zu lösen. Mit diesem Artikel möchte ich einen anderen Weg einschlagen:

Den des Yoga im 21. Jahrhundert.

Das Entwickeln des eigenen Bewusstseins ist ein wesentlicher Bestandteil des Yoga, vor allem dann, wenn man die Praxis als einen transformierenden Prozess versteht.

Im Hatha Yoga – dem großen Schirm, unter dem sich alle Stile, Marken und Traditionslinien versammeln, die mit Körperhaltungen und Bewegung arbeiten – wird dieser Prozess beschrieben als ein Erwachen und Integrieren auf dem Weg zu einer ganzheitlicheren, stimmigeren und gesünderen Erfahrung des Lebendig-Seins.

Mit anderen Worten: Wenn wir Yoga üben, dann wollen wir uns öffnen für unsere Verkörperung als organische Menschen. Das geschieht schon in dem Augenblick, wo man den Atem und das Dasein in diesem Körper-Geist bewusst erlebt.

Für viele ist das ein spiritueller Weg. Es geht um „Da-Sein“ (Einheitsperspektive) und um „Sich-verbinden“ mit dem Gefühl von Unendlichkeit oder Bewusstsein jenseits des Körper-Geists (dualistische Perspektive).

Man könnte auch sagen, es geht darum, Sinn und Bedeutung zu finden innerhalb dessen, was Mark Johnson beschreibt als den „Strom von Erfahrungen, der nicht existieren kann ohne einen biologischen Organismus in seiner unmittelbaren Umgebung.“ Anstatt die menschlichen Gedanken und Erfahrungen als im Grund illusionär und irgendwie „abgeschnitten von der Welt“ zu begreifen, verweist uns Johnson auf eine „verkörperte, auf Erfahrung gegründete Sicht auf Sinn und Bedeutung.“

Sie drückt sich aus in „diesem phänomenalen Körper“ – und damit ist nicht das weit verbreitete, auf biologische Funktion reduzierte Körperverständnis gemeint, sondern eines, in dem der Körper-Geist als Ganzes gesehen wird.

 

Yoga und somatische Körperarbeit

Wenn wir diese Herangehensweise auf Praxis und Unterricht von Yoga beziehen, dann gelangen wir zum Konzept der somatischen Körperarbeit. Abgeleitet vom griechischen Wort „Soma“ (bewusster Körper) geht man hier grundsätzlich davon aus, dass wir Menschen ganzheitliche Wesen sind und eben nicht jener Körper-Geist-Dualität unterliegen, die in der westlichen Philosophie und Medizin ebenso allgegenwärtig ist wie in der spirituellen Philosophie des Ostens.

Basierend auf der Pionierarbeit, die William James und Wilhelm Reich geleistet haben, hat sich im 20. Jahrhundert eine Vielzahl von Methoden der somatischen Körperarbeit herausgebildet, darunter zum Beispiel die Feldenkrais-Methode, Rolfing, Posturale Integration oder die Trager-Methode.

Sie alle zielen auf die Integration des Körper-Geists ab und gehen von der Annahme aus, dass emotionale und mentale Erfahrungen buchstäblich verkörpert sind, anstatt nur in der grauen Substanz des Gehirns zu wohnen und vom restlichen Körper abgetrennt zu sein.

Emotionale und mentale Komplexe gelten hier als Ursachen oder verschärfende Faktoren für körperliche Beschwerden und Krankheiten: Sie blockieren die vollständige Manifestation dessen, was Reich als „primordiale Lebensenergie“ beschrieb – ein Konzept, das in vielem dem des Prana in Yoga und Ayurveda entspricht. Überhaupt steht das, was die somatische Körpertherapie oder die Körperpsychotherapie ausmacht, in deutlichem Einklang zu den Lehren des Yoga als einem Prozess der Selbsttransformation.

Das beginnt schon bei den psychischen Anhaftungen (im Yoga: Samskaras), die ein gesundes Wesen auf seinem Weg zu klarem Bewusstsein (im Yoga: Samadhi) behindern.

Aus Sicht der somatischen Körperarbeit muss sich jede Selbsttransformation damit beschäftigen, wie man angestaute Spannung lösen und verkörperte Erfahrungen so ins Bewusstsein bringen kann, dass das gesamte Sein integriert werden kann.

Dabei arbeitet man typischerweise mit manuellen Behandlungen, die tiefe Gewebsschichten ansprechen und die dort festgehaltenen Spannungen lösen sollen. Durch körperliche Stimulation oder Manipulation bestimmter Körperregionen werden Stressreaktionen zum Vorschein gebracht, bei denen das sympathische Nervensystem aktiviert wurde (Kampf-oder-Flucht-Reaktion).

Mit Hilfe bestimmter Atemtechniken – von denen einige den Pranayama-Übungen Ujjayi, Kapalabhati und Bastrika ähneln, erreicht man allmählich ein feineres Bewusstsein der gesamten Erfahrung dieser Gefühle. Das parasympathische Nervensystem wird aktiviert und eine tiefere Ruhe breitet sich aus.

Der Atem als Schlüssel

Viele dieser Körpertherapien beschäftigen sich intensiv mit emotionalem Trauma und dessen Bewältigung. Da weite Teile der heutigen Yogaszene solche Arten von Körperarbeit meiden und stattdessen die körperlichen Aspekte von Yoga verherrlichen, gerät vielleicht in Vergessenheit, dass Yoga diese grundlegende Selbsttransformation in Form von Bewegung überhaupt begründet hat.

Klareres Bewusstsein oder spirituelles Sein war immer das wichtigste Ziel von Yoga. Patanjali beschreibt das in seinem Yoga Sutra als „Chitta Vritti Nirodaha“, „das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes“. Die unruhigen, wechselhaften Geistesbewegungen werden hier dafür verantwortlich gemacht, dass man seine wahre Natur nicht erkennen kann, sie gelten als unmittelbare Ursache von existenziellem Leid.

Zwar beinhaltet Patanjalis Yoga außer dem Meditationssitz keine Asana-Praxis, dafür bietet er aber eine Yogapsychologie an, die erstmals in der Geschichte die Bedingungen eines verwirrten Geistes genau beschreibt. Außerdem gibt er an, welche yogischen Techniken man nutzen kann, um zu einem klaren, gesunden Geist zu gelangen.

Einige Jahrhunderte später entwickelten die Hatha-Yogis dann ein ausgeklügeltes System von Körperhaltungen, Atemübungen und Mudras – ein einfacherer Weg zum gleichen Ziel.

Und zudem einen, in dessen Verlauf man Atem und Körper-Geist vollständiger integriert. So kann man die Früchte des klaren Bewusstseins, die Patanjalis Methode (beschrieben im Yoga Sutra) verspricht, umso ganzheitlicher genießen.

Ein wesentlicher Teil der Schönheit der Asana-Praxis besteht darin, dass jede Haltung bestimmte Spannungen und Körper-empfindungen zum Vorschein bringt.

Wenn wir genauer hineinspüren, erkennen wir, wie verschiedene Asanas verschiedene emotionale und mentale Reaktionen stimulieren. Eine bestimmte Haltung erzeugt je nach Ausführung, Zeitpunkt und anderen Bedingungen jeweils einzigartige Wirkungen auf den Geist. Genauso beeinflusst sie auch den Atem auf verschiedene Weise, wie subtil die Unterschiede dabei auch sein mögen.

Wenn wir mit der Aufmerksamkeit beim Atem bleiben, ihn spüren und durch den Körper leiten, dann werden wir feststellen, dass wir den Atem willentlich an Stellen lenken können, wo Spannung oder Blockaden sitzen. Dabei erleben wir von innen her, wie der Atem die Körperempfindungen, das emotionale Erleben und die geistige Bewusstheit verändert.

In den Quellenschriften des Yoga wird das erklärt mit dem Modell der Koshas (Schichten des Körper-Geistes), wobei Prana (im Atem kultivierte Lebenskraft) Körper und Geist verbindet.

Anstatt also von der Annahme auszugehen, dass Körper und Geist irgendwie voneinander getrennt sind, können wir uns der Praxis viel besser nähern, wenn wir sie verstehen als eine erwachende Erfahrung unseres Körper-Geists als Einheit – auch wenn wir das aufgrund der vorhandenen Prägungen erst einmal nicht spüren können. Dieses Erwachen stellt sich nicht automatisch ein. Man braucht dazu Willens- und Tatkraft – mit anderen Worten: Praxis!

Wenn wir den Atem beim Üben bewusst in die Region lenken, in der sich während einer bestimmten Asana Spannung zeigt, dann schaffen wir dadurch eine Möglichkeit, genau dort Bewusstsein zu erwecken. Tun wir das in jeder der 840.000 Asanas (von denen die Hatha Yoga Pradipika spricht, um zu verdeutlichen, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt), dann wecken wir nach und nach Bewusstsein in der Gesamtheit unseres Wesens. Wir wecken und erweitern das verkörperte Bewusstsein, das schon längst vorhanden ist – wenn auch bislang versteckt, betäubt oder verwirrt.

 

Die Rolle des Lehrers

Die Aufgabe des Lehrers ist es dabei, seine Schüler auf eine Weise anzuleiten, die sie dabei unterstützt, ihr vollstes Potenzial an innerem Bewusstsein frei und unabhängig zu entwickeln. Wobei es von Mensch zu Mensch ganz verschieden ist, wie man am leichtesten lernt und wie man sich folglich am vollständigsten für die transformierenden Effekte von Yoga öffnet.

Manche brauchen verbale Anleitung, manche ein visuelles Vorbild und wieder andere die Berührung.

Die verkörperte Intelligenz eines jeden einzigartigen Individuums offenbart sich auf jeweils besondere Art. Das macht es zu Beginn der Praxis fast unmöglich, eigenständig einen persönlichen, sicheren, nachhaltigen und effektiven Weg in die einzelnen Asanas hinein und wieder aus ihnen hinaus zu erkennen. Häufig verstärkt man dabei sogar Bewegungs- und Lebensgewohnheiten, die vielleicht eher begrenzend sind als ganzheitlich und transformierend.

Jener Teil des Nervensystems, der für die Propriozeption – also im wörtlichen Sinn die „Eigenwahrnehmung“ zuständig ist, arbeitet häufig ungenau. Das betrifft auch die kinästhetische Wahrnehmung, also das Empfinden der Bewegung und der eigenen Lage im Raum.

Aus diesem Grund können klar fundierte und angemessen vermittelte verbale Anleitungen, visuelle Demonstrationen und taktile Hilfen durch Berührung Yogaschülern dabei helfen, dieses Bewusstsein zu entwickeln und zu verfeinern – während sie gleichzeitig lernen, bewusster in ihren Körper-Geist zu atmen.

Dabei sollte ein Yogalehrender so dezent wie irgend möglich mit seinen Worten und Berührungen umgehen und seine Schüler viel eher dazu ermutigen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Denn erst wenn wir unseren inneren Yogalehrer entdecken, können wir bewusster und klarer unseren angestrebten Weg von Wachstum und Wandel erkennen und beschreiten.

Mark Stephens hat bereits mehrere internationale Bestseller über den Yogaunterricht geschrieben (alle deutschen Ausgaben gibt es im Riva-Verlag).
Er lebt in Kalifornien und unterrichtet weltweit, häufig auch im deutschsprachigen Raum.