Das Wurzelchakra:

als Sitz von Traumata

von Shai Tubali

Yoga Aktuell Apr-Mai/2024

Auch falls du nur flüchtig in das hinduistisch-tantrische Chakrensystem eingeführt wurdest, weißt du wahrscheinlich, dass das Wurzelchakra mit dem instinktiven Aspekt der Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität in Verbindung steht.

Das Wurzelchakra (auf Sanskrit Muladhara, wörtlich „Wurzel der Existenz“) ist das Chakra, das wir bereits als Fötus im Mutterleib und bis zum Alter von etwa sieben Jahren entwickeln. Es wird von unserem Instinktzentrum gesteuert und ist so ursprünglich, dass es all unseren komplexen Gefühlen und Denkprozessen vorausgeht. Stell es dir als deine elementarste Beziehung zum Leben vor – als den grundlegendsten Eindruck, den du von deiner Lebenserfahrung hast.

Aus genau diesem Grund ist das Wurzelchakra das Energiezentrum, das am meisten mit traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen zusammenhängt.

Natürlich speichern alle sieben Chakren traumatische und schwierige Erinnerungen, die ihren einzigartigen Lebensthemen und emotionalen Lektionen entsprechen. Dementsprechend sollten wir von sieben Arten von Trauma ausgehen.

Alle Traumata sind jedoch im Grunde Wurzelchakra-Erfahrungen und -Erinnerungen, und somit sammeln sich ihre Eindrücke darin an. Aber warum ist das so?

Um diesen Zusammenhang zu klären, müssen wir zunächst verstehen, was ein Trauma ist – nicht als klinische Definition, sondern als Trauma im weitesten Sinne. Ein Trauma ist jede tiefsitzende Erinnerung (auch auf unbewusster Ebene), deren Eindrücke sich unvergesslich in dir eingebrannt haben, und so zu Abdrücken und zu irrationalen Schlussfolgerungen über das Leben und über andere Menschen wurden.

Der Grund dafür, dass diese Eindrücke fast unveränderlich scheinen, liegt in der Tatsache, dass in diesen Momenten, Ereignissen oder Zeiträumen das stabile und vertraute Bild deines Lebens, wie du es bisher gekannt hattest, auf unerwartete Weise ernsthaft gestört und erschüttert wurde.

Unvorbereitet erstarrten dein Körper und Geist, und du versankst in einen Zustand der Ohnmacht. Während solcher Momente, in denen das Leben außer Kontrolle gerät, neigen wir dazu, nur minimal präsent zu sein, um den nicht zu bewältigenden Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Dies geschieht, indem wir den Körper entweder sozusagen verlassen oder auf Körperempfindungen reduzieren. Als Resultat dieser Abwesenheit von Präsenz und Bewusstsein wird diese vorübergehende Erfahrung dauerhaft in dir verankert.

Wurzelchakra-spezifische Traumata

Einige schwierige Erinnerungen können spezifischer als Wurzelchakra-Traumata beschrieben werden. Bei solchen Erfahrungen steht die Erschütterung der gewohnten Strukturen unseres Lebens in direktem Zusammenhang mit körperlichen Gefahren, lebensbedrohlichen Situationen und ganz allgemein mit Umbrüchen und der daraus resultierenden tiefgreifenden Unsicherheit.

Bei körperlichen Traumata kann es sich um ernsthafte Erkrankungen handeln oder um schwächende chronische Umstände (zum Beispiel das Gefühl, dass unser starker Körper uns auf einmal völlig fremd und unverständlich ist), um Zeiten, in denen unsere Geliebten großen Gefahren ausgesetzt waren,

um den Tod von Menschen in unserem Umfeld, vielleicht sogar Todesfälle, die wir aus nächster Nähe miterlebt haben, um eine eigene Nahtoderfahrung, um gewalttätige Angriffe oder körperliche Misshandlungen gegen uns oder andere, um die Konfrontation mit Naturkatastrophen, Kriegen und Terrorangriffen sowie um physische Schocks im Mutterleib oder während der Geburt. Diese Bandbreite an Erfahrungen kann uns zu dem Schluss führen, dass es nicht sicher ist, verkörpert zu sein.

Außerdem sollten wir an Ereignisse denken, in denen die scheinbar soliden Strukturen unseres Lebens untergraben wurden, von finanziellen Traumata (zum Beispiel, wenn die Gefahr droht, dass wir keine Nahrung mehr bekommen oder das Dach über dem Kopf verlieren) bis hin zum Verlust des eigenen Zuhauses oder Grundstücks und zu ungewollten Umzügen.

Da unsere Vergangenheit und Gegenwart auch von kollektiven Ereignissen geprägt sind, kann unser Wurzelchakra auch von physischen Traumata unserer Nation oder ethnischen Gruppe belastet sein. Diese Art von Trauma führt uns häufig zu dem Schluss, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist, und manchmal bereuen wir es sogar, auf die Welt gekommen zu sein. Wir fühlen uns vielleicht als Opfer des Lebens, und es fällt uns schwer, mit Herausforderungen umzugehen, da wir jede Veränderung, wie zum Beispiel das Zerbrechen einer Ehe oder einen Jobverlust, als lebensgefährliche Bedrohung interpretieren.

Folglich senden unser Geist und unser Körper falsche Gefahrensignale und bereiten uns auf das Schlimmste vor.

Wir mögen auch verschiedene Formen von Ängsten und den Wunsch nach einem extrem repetitiven und vorhersehbaren Leben haben und unser Bestes tun, um viele Erfahrungen und Abenteuer des Lebens zu vermeiden.

Trotz dieser langen Liste von typischen Wurzelchakra-Traumata solltest du dir diesen Grundsatz bewusst machen: Alle Traumata sind ihrer Natur nach Wurzelchakra-Phänomene. Das grundlegende Gefühl eines wackeligen Bodens unter unseren Füßen ist eine Wurzelchakra-Erfahrung. Das wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, dass das Wurzelchakra unser vorherrschendes Energiezentrum in unserer frühen Kindheit ist, wenn wir am anfälligsten für Schocks sind.

Von einem unbewussten „Nein“

zu einem bewussten „Ja“

Ein Mensch mit einem unausgeglichenen Wurzelchakra hegt in der Regel die unrealistische Hoffnung, dass er niemals plötzliche und unvorhersehbare Veränderungen erleben muss.

So sammeln sich all diese traumatischen Ereignisse in ihm an und kristallisieren sich allmählich zu einem „Nein“ zum Leben heraus – einem grundlegenden Konflikt mit dem Leben, der uns mit einem Fuß drin und mit dem anderen draußen hält, während wir uns weigern, vollkommen zu inkarnieren und in die Erfahrungen des Lebens einzutauchen. Das kann sich manchmal sogar zu allen möglichen Formen von Eskapismus und Fantasien entwickeln.

Ein großer Teil unserer mentalen Turbulenzen ist in Wirklichkeit das Resultat von unbehandelten Traumata, die in unserem Wurzelchakra gespeichert sind. Nicht selten verwandeln sich diese ungelösten Erinnerungen aber auch in körperliche Schmerzen, die sich in den vom Wurzelchakra dominierten Bereichen ausbreiten: Das sind Beine und Füße sowie das Muskel- und Skelettsystem, einschließlich des unteren Rückens.

Im Laufe seines Reifungsprozesses sollte unser Wurzelchakra eine andere Beziehung zum Leben entwickeln.

Dazu zählt, zu lernen, fest auf dem Boden zu stehen – sowohl metaphorisch als auch physisch –, ein klares „Ja“ zum Leben zu sagen und endlich zu verkünden: „Ich bin hier!“

Ein guter und notwendiger Ausgangspunkt wäre eine reifere Beziehung zu den traumatischen Ereignissen. Schließlich besteht die wichtigste Lebenslektion des Wurzelchakras darin, zu erkennen, dass die Suche nach permanenter Stabilität in einer Welt, deren Natur konstante Veränderung ist, vergeblich bleibt.

So können Traumata, die unser Gefühl der Sicherheit erschüttern, uns letztendlich ermutigen, die wahre Natur des Lebens zu akzeptieren und nach innerer Stabilität zu suchen.

Manche Meditationstechniken können als wichtige Hilfsmittel bei der Heilung des Wurzelchakras dienen, indem sie unser verletztes Instinktivzentrum beruhigen. Dazu zählen die Stehmeditation (Zhan Zhuang), wie sie im Taoismus und Qigong praktiziert wird, der Body Scan nach Jon Kabat-Zinn und die Gehmeditation sowie die Achtsamkeit des Atems aus dem Buddhismus.

Jede Form der Meditation kann unserem gebeutelten Wurzelchakra zugutekommen, da sie uns hilft, in den stürmischen Gewässern des Lebens innere Stabilität zu finden.

Vor allem brauchen wir aber spirituelle Therapie, um unsere Traumata zu transformieren – sie nicht nur zu heilen, sondern die unglaubliche Lebenskraft freizusetzen, die in unseren eingefrorenen Erinnerungen gefangen ist.

Um ein Trauma zu transformieren, ist die Bereitschaft notwendig, zum Ereignis zurückzukehren, wie schwer das auch sein mag, und es mit Bewusstsein und Präsenz zu durchdringen.

Was die Erinnerung in einem gefrorenen Zustand hält, ist unser Widerstand, sie zu erleben, und unser verständlicher Wunsch, vor ihr zu fliehen. Transformation beginnt, wenn wir auf reife Weise akzeptieren, dass auch diese schrecklich erschütternden Momente ein Teil der Realität des Lebens sind.

Shai Tubali PhD ist Mystiker und Philosoph. Er hat über dreißig Bücher veröffentlicht, die in zwölf Sprachen übersetzt wurden. Seit dem Jahr 2000 hat er in internationalen Workshops tausende von Menschen dazu inspiriert, die Kräfte des Bewusstseins zu aktivieren.
Er unterrichtet sowohl traditionelle als auch innovative Techniken, wie seine medizinisch bewährte Expansions-Methode.

www.shaitubali.com/de