Schöne neue Welt?

von Carmen Schnitzer – Yoga World Jan-Feb/2024

 

Naturkatastrophen, Kriege, Krankheiten – in diesen Zeiten optimistisch zu bleiben, fällt nicht leicht.
Und doch hört man immer wieder Stimmen, die in der aktuellen Umbruchzeit eine Übergangsphase sehen,
die uns in eine goldene Zukunft führt.

Kann das wahr sein?

Am Ende des Tunnels wartet ein Licht, Phönix steigt aus der Asche, aus Raupen werden Schmetterlinge und aus einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, wird früher oder später… ja, was?
Ein goldener Ort voller Frieden, Freiheit, Glück, wie ihn John Lennon 1971 in seinem utopischen und zur Hymne gewordenen Song „Imagine“ besungen hat?

Drei Jahre zuvor wurde das Hippie-Musical „Hair“ in New York uraufgeführt, in dessen Auftaktsong „Aquarius“ der Beginn des Wassermannzeitalters angekündigt wird, eines Zeitalters, in dem Harmonie, Verständnis, Vertrauen und Wahrheit herrschen würden und von dem in spirituellen Kreisen auch heute noch viele glauben, es habe bereits begonnen. Oder es dauere zumindest nicht mehr lange, bis es soweit sei. Andere, die sich auf die hinduistische Kosmologie berufen, sprechen davon, dass wir uns im Übergang vom Kali-Yuga, dem dunklen Zeitalter des Streites, der Heuchelei und des Materialismus, zum Satya-Yuga befinden, jener goldenen Ära der Liebe, des Mitgefühls und der höheren Wahrhaftigkeit.

Oder dass dieser Übergang kurz bevorstehe, was immer „kurz“ letztlich bedeutet. Mal ist die Rede davon, dass diese „neue Zeit“ bereits 2012 begonnen habe, mal heißt es, die Übergangszeit dauere in etwa von 1987 bis 2037, mal, sie werde in 6000 Jahren beginnen, dann wieder ist von verschiedenen Unterzyklen innerhalb der großen Yuga-Zyklen die Rede, und je mehr man darüber liest, desto mehr schwirren einem die Zahlen um die Ohren – und helfen einem letztlich nicht weiter.

Sicher scheint nur: Ja, irgendetwas ist da am Brodeln in der Welt. Das spüren wir doch alle, nicht erst seit der Coronapandemie, nicht wahr? Oder fühlt es sich am Ende nur so an, weil wir nicht erst abends beim Nachrichten-Gucken oder morgens beim Zeitunglesen über die nächste Krise – seien es Klimawandel, Energieprobleme oder Kriege in der Ukraine oder in Nahost – informiert werden, sondern fast schon minütlich über Handy-Live-Ticker, Social Media und, und, und…?

Diese Ansicht vertritt etwa der Krisenmanager Frank Roselieb in einem SRF-News-Interview: „Die Zahl der Krisenfälle in den deutschsprachigen Ländern ist in den vergangenen 40 Jahren ziemlich konstant geblieben“, erklärt er darin. „Früher hatten wir allerdings mehr operative Krisen – Flugzeugabstürze oder Hotelbrände – heute stellen wir mehr kommunikative Krisen wie etwa Shitstorms fest. Heute ist die Wahrnehmung von Krisen viel stärker als noch vor einigen Jahrzehnten.“ Das liege auch daran, dass es früher deutlich länger gedauert habe, „bis man eine Krise wahrgenommen hat – und die nächste und die übernächste.“ Ist am Ende diese Über-Information inklusive ständiger Erreichbarkeit unsere eigentliche Krise, des Pudels Kern sozusagen? Und wenn ja, würde digitales Fasten helfen?
Dem Einzelnen vermutlich tatsächlich, zumindest vorübergehend. Aber brächte es die große Transformation in Gang, nach der wir uns so sehnen und die wir gleichzeitig fürchten, weil es nur allzu menschlich ist, am Status quo zu klammern, die Komfortzone nicht verlassen zu wollen?

Wir müssen aktiv werden

Du siehst: Beim Thema Transformation tun sich schnell viele Fragen auf, während die Antworten oft noch auf sich warten lassen oder unbefriedigend sind. Expert*innen aus Psychologie, Medizin, Philosophie und Wirtschaft sind sich allerdings weitgehend einig: Viele Menschen fühlen aktuell eine große Überforderung.

Nichts scheint mehr sicher zu sein, weder Beziehungen noch Arbeitsplätze noch Renten, und eine heile Umwelt gibt’s ohnehin schon lange nicht mehr. Psychische Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen und Burn-out sind laut verschiedenen Krankenkassen-Umfragen auf dem Vormarsch, auch diese Entwicklung begann schon vor Corona, hat sich in der Pandemiezeit allerdings noch verstärkt.

Bleibt die Frage:

Wie begegnen wir dieser Überforderung, auch und vor allem als Yoga-Praktizierende?

Sich zurücklehnen und passiv-naiv auf das schöne, goldene Glück warten, das da auf uns warten soll? Das kann es nicht sein, denn echte Transformation kommt nicht einfach aus dem Nichts über uns, sondern bedarf unserer Mitarbeit, das weiß jeder, der bereits persönlich einen solchen Weg vollzogen hat.

Die im Juli 2023 verstorbene, US-amerikanische Meditationslehrerin Sally Kempton schrieb, „echte Transformation“ sei „ein ziemlich radikaler Prozess“, bei dem man sieben Phasen durchlaufe:

  1. den Weckruf, bei dem einem bewusst wird, dass sich etwas ändern muss,
  2. das Aushalten der Unsicherheit, während wir nach neuen Antworten und Wegen Ausschau halten,
  3. das Hilfe-Suchen, sei es bei Therapeut*innen, Lehrer*innen oder Coaches,
  4. die Gnade, die Einsicht und das Erwachen, eine Phase, die den inneren Wandel markiert,
  5. die „Flitterwochen“, in denen die neuen Einsichten uns beflügeln wie eine neue Liebe,
  6. das Aus-der-Gnade-Fallen, in dem wir aus dem „Flitterwochen“-Rausch heraus falsche Entscheidungen treffen und blind unserer Intuition vertrauen, und schließlich
  7. die Integration, während der wir „verstehen, dass Verlust kein Scheitern ist“ und uns Zeit nehmen, unsere neu gewonnenen Einsichten auch wirklich umzusetzen.

Wenn man sich diese Phasen so anguckt – wo stehen wir dann gerade als Weltgesellschaft?
Wenn wir mal ehrlich sind: womöglich erst in Phase 2 oder 3, maximal in 4, nicht wahr? Im Einzelfall mögen manche schon weiter sein, gemeinsam haben wir aber noch einiges vor uns.
Schaffen wir das, wo wir doch jetzt schon so erschöpft und ausgebrannt sind? Gegenfrage: Haben wir eine andere Wahl, als es zu versuchen?

Immerhin: Mit Yoga haben wir ein gutes Werkzeug in der Hand, wenn wir uns wieder auf die Kernbedeutung des Wortes besinnen, die da lautet: Verbindung. Verbindung von Körper, Geist und Seele zu einem, zum anderen aber auch – und das ist in diesem Fall der entscheidende Punkt – mit der Welt um uns herum, der Natur, unseren Mitmenschen…

Wir müssen also aufpassen, dass unser Üben in Achtsamkeit und Konzentration nicht in einem Um-uns-selbst-Kreisen mündet, wie es, wenn wir mal ehrlich sind, in der Yogaszene durchaus passiert.

Chögyam Trungpa Rinpoche, einer der Wegbereiter des tibetischen Buddhismus im Westen, beschrieb in seinem Buch „Spirituellen Materialismus durchschneiden“ die Problematik so: „Es gibt zahlreiche Abwege, die in eine verdrehte egozentrierte Form der Spiritualität führen. Wir können uns selbst so täuschen, dass wir meinen, uns spirituell zu entwickeln, während wir stattdessen unseren Egozentrismus mit spirituellen Praktiken stärken.“

Das Einssein mit dem Kosmos

Der Philosoph Christoph Quarch sieht aus fernöstlichen Spiritualitätsansätzen wie Yoga, bei allem Nutzen für den einzelnen Menschen, keine transformative gesellschaftliche Kraft wachsen. Demgegenüber glaubt der Philosoph Thomas Metzinger an die Entwicklung von Mitgefühl durch eine regelmäßige Meditationspraxis. Beide Ansätze sind nachvollziehbar, zumal sie unterm Strich vielleicht näher beieinander liegen, als es zunächst scheint.

Denn die neue (Natur-)Religion, wie sie Quarch vorschwebt, eine Religion, die sich an das Sein anbindet und nicht an eine Macht hinter dem Sein, ist letztlich nicht so weit weg von dem im Yoga angestrebten Einssein mit dem Kosmos.

Es geht nur gemeinsam, so viel ist klar. Und doch: Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst beginnen. Wobei es bei Transformation noch um sehr viel mehr geht als bloße Veränderung, auch wenn erstere ohne letztere nicht funktioniert.

Doch während Veränderung ein Prozess ist, der vorhandene Missstände behebt und an die gegebenen Bedingungen anpasst,
hat Transformation das große Ganze im Blick. Dem äußeren Wandel geht ein innerer voran, es gibt eine Vision, ein Ziel, einen Wandel auch im Bewusstsein.

Auf die Welt bezogen heißt das: Wenn wir uns Frieden wünschen, müssen wir uns wieder in Verbundenheit üben. Müssen auch auf die Menschen zugehen, die nicht dieselben Ansichten teilen wie wir, müssen versuchen, sie zu verstehen und bereit sein, eigene Ansichten zu überdenken. Vor allem müssen wir einander wieder zuhören lernen, was gar nicht so leicht ist in Zeiten, in denen man oft das Gefühl hat, der- oder diejenige, die am lautesten auf seiner oder ihrer Meinung beharrt, bekomme am Ende recht. Übe dich dennoch darin.

Denn auch Krisen wie dem Klimawandel können wir nur begegnen, indem wir gemeinsam agieren. Wenn wir gemeinsam kämpfen für eine Wirtschaft und Politik, die den Menschen und die Natur im Blick hat und nicht in erster Linie das Geld. Wenn wir uns bemühen um ein Miteinander, das auf friedlicher, fairer und kreativer Kommunikation beruht, anstatt auf Konkurrenzdenken und Feindseligkeit.

Gleichzeitig ist es aber wichtig, auch die eigenen Bedürfnisse und Energiereserven im Blick zu behalten. Auch das kennst du aus dem Yoga: Ja, wir sollten nicht in der Bequemlichkeit verharren und immer mal wieder unsere Grenzen ausloten, aber diese Grenzen eben auch respektieren. Gönn dir darum regelmäßig Pausen – vom Diskutieren, vom Medienkonsum, vom Helfen, vom Schaffen-Müssen, vom Korrekt-Sein.

Akzeptiere, wenn du dich mal schwach und hilflos fühlst, aber versuche, dich nicht zu lange in deinem Loch aufzuhalten und zu verkriechen. Meditation kann dich dabei unterstützen, den Weltschmerz zu verwandeln in eine liebevolle Grundhaltung gegenüber allem, was dich umgibt – mitsamt den Missständen.

Falls du aber das Gefühl hast, nicht mehr allein herauskrabbeln zu können aus dem Loch, dann such dir (gegebenenfalls professionelle) Hilfe!

Selbstfürsorge betreiben, ohne uns nur noch um uns selbst zu kreisen, mit- statt gegeneinander zu arbeiten, um eine Welt zu schaffen, in der es sich auch für die zu leben lohnt, die sie nach uns bevölkern – kriegen wir das hin? Wer weiß.

„Wenn wir das Tor der Transformation durchschreiten (und Yoga ist in seinem Kern nichts anderes als so ein Tor), können wir nicht vorhersehen, wohin diese Transformation uns führen wird“, schrieb Sally Kempton.

„Wir können nur davon ausgehen, dass sie ein Tanz ist zwischen Einsicht und praktischer Anwendung, zwischen Übung und Gnade, zwischen Sein und Werden.“

In diesem Sinne: Lasst uns gemeinsam tanzen und darauf hoffen, dass eines Tages die Welt unter unseren Füßen zu blühen beginnt!