Das Sakralchakra:
im Kontext des Tantra
von Shai Tubali
Yoga Aktuell Jun-Jul/2024
Im einfachsten Sinne ist das Sakralchakra der Sitz des Verlangens oder Begehrens. Dies ist kein kompliziertes Begehren mit entschlossenen Ambitionen oder klaren Zielen. Es ist dein grundlegender Appetit auf die verschiedenen Genüsse des Lebens. In der Chakrenentwicklung taucht dieser Appetit in unserer frühen Kindheit auf.
Zunächst werden wir vom Wurzelchakra geleitet, welches ganz auf Instinkten basiert und vom Überlebenswunsch angetrieben wird. Aber sobald wir uns in unserem Körper wohlerfühlen und im physischen Leben Orientierung gefunden haben, beginnen wir uns umzuschauen und stellen fest, dass die Welt auch eine Vielzahl von Sinnesfreuden und Abenteuern bietet.
Später, als Teenager, werden wir von den intensiven Energien der Sinnlichkeit und der Sexualität überwältigt. All diese Entdeckungen verwandeln unser Sakralchakra in einen brodelnden Kessel von Impulsen und Trieben.
Aus diesem Grund kann der Umgang mit dem Sakralchakra herausfordernd sein. Auf Höhe des Schambeins angesiedelt, entspricht dieses Chakra unseren Sexualorganen und ist unsere rohe Lebenskraft. Mit dieser manchmal unkontrollierten Lebenskraft zu arbeiten, kann sich wie das Reiten eines Tigers anfühlen. In gewisser Weise ist dieses Zentrum unser tiefstes Unbewusstes, denn es ist mit sehr ursprünglichen Energien und schwer fassbaren Gefühlen angefüllt, die wir nicht analysieren oder erklären können.
Oft ist es auch durch sexuelle Traumata, Abenteuer, die in Enttäuschungen oder Katastrophen endeten, und mit gesellschaftlich bedingten Scham- und Schuldgefühlen belastet.
Dieses Chakra hat viele spirituelle Traditionen herausgefordert. Traditionen, die sich mit Chakren beschäftigen, warnen Praktizierende häufig vor der ungewohnten Intensität dieses Energiezentrums. Andere Traditionen tun ihr Bestes, um es zu meiden oder zu transzendieren.
Im Allgemeinen haben Religionen den Gläubigen geraten, es zu kontrollieren und zu unterdrücken. Manchmal haben sie es sogar als dämonisch und potenziell destruktiv betrachtet. Wir wissen, dass sie damit nicht ganz unrecht hatten, da selbst namhafte spirituelle Meister mit diesem Chakra ihre Herausforderungen hatten.
Mach dir jedoch auch bewusst, dass dieses Chakra im Sanskrit Svadhishthana genannt wird.
Das heißt übersetzt so viel wie „eigene Wohnstätte“ oder „der Ort, an dem sich das eigene Sein niederlässt“. Zu versuchen, dieses wertvolle Chakra zu umgehen, ist so, als würden wir unserem energetischen Motor den Rücken zukehren.
Wenn es zu lange unterdrückt wird, geht uns der Treibstoff für das Leben aus. Deshalb erleben spirituell Praktizierende, die dieses Chakra unterdrückt haben, Ausgelaugtheit und einen Mangel an Vitalität. Diejenigen hingegen, die seine Geheimnisse weise zu nutzen wissen, selbst wenn sie zölibatäre Mönche sind, werden spüren, wie der Saft des Lebens durch ihre feinstofflichen Adern fließt.
Es gibt einen spirituellen Ansatz, der sich mutig den Kräften des Sakralchakras gestellt und gelernt hat, den Tiger zu reiten. Dieser Ansatz gehört nicht nur zu einer einzigen Tradition, sondern wir finden ihn im Hinduismus, im Buddhismus und im Taoismus. Er ist als Tantra bekannt.
Alles in dir
für die Transformation nutzen
Tantra ist für seinen mutigen Umgang mit Sexualität bekannt geworden. Das ist verständlich, weil Sex ein aufregendes Thema ist. Aber Tantra sagt uns tatsächlich etwas sehr viel Umfassenderes über unser Sakralchakra.
Es zeigt uns, wie all die so genannten niederen Impulse – Lust, Sehnsucht, Verlangen und Wut – nützliche Materialien für unsere innere Alchemie sein können.
Im Allgemeinen gibt es zwei spirituelle Ansätze: Nicht-Anhaftung und Tantra.
Der erste leitet uns an, unsere niederen Gefühle und Impulse zu transzendieren. Wenn du Wut erlebst, betrachte sie auf neutrale Weise oder fokussiere dich auf etwas Heiteres.
Anstatt den einfachen Vergnügungen zu frönen, wende deinen Geist dem Vergnügen der Meditation oder des Gebets zu; das irdische Leben ist nicht wichtig. Das ist die gängigste Herangehensweise an die Meditation: Wir lernen, alle diese mentalen Fluten und Ebben still zu betrachten – wir ordnen sie nicht als gut oder schlecht ein, sondern beobachten sie so lange, bis Gelassenheit und Ruhe vorherrschen.
Im Tantra hingegen glaubt man, dass diese Energien das sind, was wir haben. Sie sind ein Teil unserer menschlichen Realität. Es ergibt keinen Sinn, sie zu leugnen oder zu unterdrücken. Wir müssen pragmatisch sein und (Anm.: im Rahmen unserer ethischen Werte) das nutzen, was uns zur Verfügung steht.
Darüber hinaus sagt Tantra uns, dass diese Energien nicht in unserem Sakralchakra brodeln, weil sie uns nerven wollen. Sie sind da, um sich in unschätzbare spirituelle Kräfte zu transformieren. Das Leben weist uns auf verschiedene Arten darauf hin.
Ist es zum Beispiel Zufall, dass unsere Kundalini-Energie und unsere Sexualorgane denselben Raum miteinander teilen? In gewisser Weise teilen die spirituelle und die sexuelle Energie die gleiche Essenz, oder überschneiden sich zumindest. Sie sind beide versessen darauf, Teil eines größeren Ganzen zu werden. Warum also machen wir uns diese wunderbare Obsession nicht zunutze?
Tantra betrachtet all diese Kräfte des Sakralschakras gewissermaßen als von Natur aus spirituell.
Auf den ersten Blick wirken sie roh und grob, wie billiges Metall. Aber wenn du tiefer schaust, wirst du ihre goldene und strahlende Essenz entdecken. Ja, die spirituelle Erleuchtung verbirgt sich in den Tiefen deines Zorns und deiner Sehnsucht!
Vom Tropfen des Genusses
zum Ozean der Glückseligkeit
Der tantrische Ansatz ist nicht so einfach, wie er erscheint. Energien des Sakralchakras sind explosiv. Deshalb brauchen Tantriker und Tantrikerinnen viel Übung und Anleitung, um sie sich nutzbar zu machen. Und weil es sich um enorme Kräfte handelt, gilt Tantra sowohl als gefährlich als auch als der schnellste Weg zur Erleuchtung.
Stell dir ein wildes, ungezähmtes Pferd vor: Es hat eine enorme natürliche Energie, aber es zögert nicht, dich abzuwerfen. Deshalb erlauben tantrische Traditionen, die sich mit sexueller Transformation befassen, nur ihren fortgeschrittensten Schülerinnen und Schülern, tatsächlich Sex zu haben. Die Botschaft ist klar: Nur wenn du Sex nicht dringend brauchst, kannst du ihn nutzen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass du ein tantrischer Adept werden musst, um den tantrischen Ansatz in deinem Leben zu nutzen. Du kannst den ersten Schritt machen, indem du die Energien und Kräfte deines Sakralchakras einlädst, sich zu erheben. Gib dein Einverständnis, sie kennenzulernen, in sie einzutauchen und ihr transformatives Potenzial zu offenbaren.
Solange du diese Energien fürchtest, werden sie im Dunkeln bleiben und dämonisch und gefährlich erscheinen. Denk an das Vertrauen, das Tantriker in die lichtvolle Natur des Sakralchakras haben.
Es gibt sichere und effektive Methoden, um mit den explosiven Kräften deines Sakralchakras zu arbeiten. Einige gute Beispiele sind Mantak Chias taoistische Praktiken zur sexuellen Transformation, das tantrisch-buddhistische innere Feuer (Tummo), Oshos Mystic Rose Meditation und Lachmeditation.
Ein weiterer wichtiger Schritt kann darin liegen, die Gefühle im Sakralchakra nicht länger zu unterdrücken. Probier das Gegenteil aus: Lass sie sich in deinem Körper und deinem Wesen ausbreiten und ausdehnen.
Du wirst überrascht sein, wenn du feststellst, dass sich Wut langsam in ein Gefühl der Präsenz verwandelt.
Wut ist nicht ausschließlich schlecht und zerstörerisch. Sieh dir die zornigen Gottheiten im Tantra an, sie stehen für die Größe deiner eigenen Buddha-Natur.
Du kannst auch deinen Momenten der Freude und des Genusses erlauben, sich zu intensivieren.
Eine einfache Freude, wie der Geschmack von Schokolade oder das Lachen eines Babys, kann sich zu mehr als nur einem vorüberziehenden Vergnügen entwickeln, wenn du dein Herz darauf konzentrierst, sie auszudehnen.
Yogananda hat diese Technik wunderschön beschrieben: „Wenn eine kleine Blase der Freude im Meer deines Bewusstseins auftaucht, halt sie fest und dehn sie immer weiter aus. Meditiere darüber, und sie wird größer werden. Puste die Blase weiter auf, bis sie ihre begrenzenden Wände durchbricht und zu einem Meer der Freude wird.“
Shai Tubali PhD ist Mystiker und Philosoph. Er hat über dreißig Bücher veröffentlicht, die in zwölf Sprachen übersetzt wurden. Seit dem Jahr 2000 hat er in internationalen Workshops tausende von Menschen dazu inspiriert, die Kräfte des Bewusstseins zu aktivieren.
Er unterrichtet sowohl traditionelle als auch innovative Techniken, wie seine medizinisch bewährte Expansions-Methode.