RUHE IM STURM
von Sally Kempton – Yoga Journal 05/2016.
Was es wirklich mit innerer Kraft auf sich hat, wo sie herkommt und wie man tiefer in Kontakt zu ihr kommen kann, erkennt man häufig erst dann mit aller Deutlichkeit, wenn man sie bitter nötig hat – in einer Lebenskrise. Beispiel Amy: Nach zehn Jahren Ehe hat sich ihr Mann in eine andere Frau verliebt, er hat Amy verlassen und den Familienrichter davon überzeugt, ihm das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zu übertragen. Amy konnte und wollte sich nicht damit abfinden, von ihrem Kind getrennt zu werden.
Als ein reflektierter, an innerem Wachstum interessierter Mensch, nahm sie sich zwar vor, diese Krise mit möglichst großer Ruhe und Gelassenheit zu meistern, dennoch stürzte sie der langwierige Sorgerechtsstreit in einen Tumult von Gefühlen. Sie fühlte sich hin- und hergeworfen zwischen Wut, Angst, Trauer und Machtlosigkeit.
„Wie kann ich die Kraft finden, um das durchzustehen?“, fragte sie mich. Ich schlug vor, mit einer anderen Frage zu beginnen:
„Was ist in diesem Moment die Quelle meiner Kraft?“
Drei Energien
Amy beobachtete sich eine Weile und konnte drei Arten von Kraft identifizieren: Die intensivste war gespeist aus Wut und dem Gefühl der Ungerechtigkeit. Die Wut spornte sie an, den Rechtsstreit zu gewinnen, jeden Tag eine Stunde laufen zu gehen und regelmäßig Yoga zu üben. Diese Art von Kraft und Entschlossenheit forderte allerdings einen Preis: Sie ließ Amy mitten in der Nacht aufwachen, sie machte sie reizbar und rastlos, flutete ihren Körper mit Cortisol und Adrenalin – und führte sie immer häufiger in ein Gefühl der völligen Erschöpfung.
In solchen Momenten war sie dann geneigt, alle Hoffnung aufzugeben, sich den vermeintlichen Realitäten zu beugen und ihre Situation nur noch duldend hinzunehmen. Erstaunt stellte Amy fest, dass sie auch diese stoische Hinnahme, genau wie die Wut, als eine Art von Stütze empfand.
Glücklicherweise fand Amy aber noch eine dritte, essenzielle Quelle der Kraft: eine ruhige Zuversicht, die tief in ihrem Inneren wurzelte: „Es fühlt sich an, als gäbe es einen Teil von mir, der sich all diesen Tumult liebevoll ansieht, der sich wünscht, dass sich für alle Beteiligte alles zum Besten wendet – und der daran glaubt, dass es auch so kommen wird.“
Als Amy mir das so schilderte, wurde mir klar, dass hinter ihrer Erfahrung ein universelles Muster steckte. In der Yogaphilosophie nennen wir es die drei Gunas. Darunter versteht man drei energetische Qualitäten, die die gesamte natürliche Welt durchziehen.
Rajas ist die Energie von Leidenschaft, Wille,
Aggression, Entschlossenheit und Antrieb.
Tamas ist die Energie von Trägheit, Passivität, Hingabe und Schlaf.
Sattva ist die Qualität von Friedlichkeit, Klarheit und Glück.
Die drei Gunas sind so eng miteinander verbunden wie drei Fäden einer Schnur. Sie sind immer alle vorhanden, aber sie wirken jeweils in unterschiedlichen Kombinationen und unterschiedlich stark. Ihr ständiges Wechselspiel wird besonders deutlich an unseren Stimmungen.
Sich selbst unter dem Gesichtspunkt der drei Gunas zu beobachten, kann daher sehr erhellend sein: Welche Kraft wirkt hier gerade? Wie drückt sie sich aus und zu welchem Verhalten veranlasst sie mich?
Das Feuer der Wut
Die meiste Zeit über kann man an sich selbst typische Verteilungsmuster der Gunas erkennen: Es gibt zum Beispiel Typen, die eher zu Tempo und feuriger Willenskraft neigen, und andere, die etwas schwerfälliger und -hingebungsvoller sind. Dass Amy in ihrer schwierigen Situation besonders stark zwischen den Gunas hin- und herschwankte, ist charakteristisch für Lebenskrisen. Wenn Rajas vorherrschte, fühlte sie sich stark und -entschlossen, denn rajasige Kraft ist voller Antrieb, sie macht kreativ und effizient. Weil Begehren und Wut die wichtigsten Kennzeichen von Rajas sind, zehrt dieses Feuer aber auch an einem. Außerdem enthält es den Keim tiefer Angst vor Verlust und Versagen.
Sicher fällt es Ihnen nicht schwer, das Wirken von Rajas im Alltag zu identifizieren: Es ist jene Energie, die uns antreibt, Deadlines einzuhalten oder sportliche Höchstleistungen abzurufen, die ein starkes Gefühl von „Ich will das“ in uns wachruft und uns ohne Unterlass im Hamsterrad der Gedanken laufen lässt. Im Yogastudio äußerst sich Rajas in einer athletischen Praxis. Die Muskeln sind kraftvoll angespannt, die Konzentration ist ungebrochen und der schiere Wille macht sogar die schwierigsten Haltungen möglich.
Amy fühlte sich stark und mutig, wenn sie in ihrer rajasigen Energie war. Gleichzeitig hatte der unbedingte Wille, sich durchzusetzen, aber auch etwas sehr Verunsicherndes: Jedes Mal, wenn schlechte Nachrichten vom Anwalt kamen, konnte ihre rajasige Kraft völlig in sich zusammenbrechen.
Der Halt der Verzweiflung
Diese Rückschläge führten Amy dann oft in einen tamasigen Zustand von Erschöpfung und Verzweiflung: Sie zog sich zurück und suchte Zuflucht in einer -dumpfen Resignation. Tamas wirkt wie Schwerkraft: Sie kann unbeweglich, tatenlos und traurig machen. Man schiebt die Fersen in den Boden, hält fest an dem, was man hat, und widersteht stur den Herausforderungen des Lebens – selbst wenn sie Wandel und Entwicklung mit sich bringen könnten.
Gleichzeitig hat Tamas aber auch positiven Seiten: Ohne Tamas könnten wir nie zur Ruhe kommen, schlafen, uns entspannen. In der Yogapraxis brauchen wir die hingebungsvolle, annehmende Seite von Tamas, um in eine Haltung hinein loszulassen. Oder um zu erkennen: Hier gibt’s eine Grenze, wenn ich jetzt weiter mit Willenskraft arbeite, führt das nicht zu Entwicklung, sondern nur zu Verletzung.
Dieser instinktive Selbstschutz bedeutet im besten Sinn Akzeptanz: Sie lässt uns unveränderliche Gegebenheiten schlicht anerkennen oder aushalten, bis der Sturm vorüberzieht. Sehr häufig speist sich diese Kraft aber auch aus der tiefsitzenden Überzeugung, dass Veränderungen grundsätzlich nichts Gutes bringen. So lässt tamasige Energie einen auch dann noch wie eine Klette an den altbekannten Begrenzungen hängen, wenn man sie längst als schmerzvoll empfindet oder sich selbst nur noch die Opferrolle zugesteht.
Die Kraft der Stille
In Momenten, in denen sich ihr Geist einmal nicht zwischen diesen beiden Energien hin- und herzerren ließ, konnte Amy sich mit einer dritten Kraft verbinden: „Alles wird gut!“ Durch das bewusste Wahrnehmen der Wirkmechanismen von Rajas und Tamas fiel es Amy leichter, sich von ihrem permanenten Gedankenkarussell um Lösungswege und Racheszenarien loszumachen. Stattdessen lernte sie, sich nach innen zu wenden, wo sie zuverlässig einen optimistischen Kern vorfand, jenes Gefühl grundlegender Sicherheit, das charakteristisch ist für Sattva.
Das Wort Sattva basiert auf der Wurzel „Sat“, was zugleich „Sein“ bedeutet und „Wahrheit“. Es ist -wortwörtlich die innerste Kraft des Seins. Jene Kraft, die den Buddha unter dem Bodhi-Baum sitzen ließ, bis er Erleuchtung erlangte. Die Kraft, die Gandhi und Martin Luther King aufrecht erhielt und die man in alten Kathedralen und Wäldern wahrnehmen kann oder am Ufer eines Gewässers.
Sattvische Kraft besteht zu einem Teil aus Disziplin und zu drei Teilen aus Vertrauen. Sie speist sich aus der Stille. Wahre sattvische Kraft erwächst aus der Bereitschaft zu warten, bis sich Handlungen in aller Ruhe aus deiner Mitte heraus entfalten können. Sie ist so stark und machtvoll, weil sie aus einer klaren Intention heraus erwächst – einer subtilen, aber unbeugsamen Klarheit darüber, was dein Herz und deine Seele sich wirklich wünschen. So eine klare Intention kann nur aus Stille und Kontemplation heraus formuliert werden. Jedes Mal, wenn man in diese Stille zurückkehrt, wird sie genährt und aufgefrischt. Oft weiß man dann gar nicht, wie genau es geschieht, dass die subtile Kraft dieser Intention die Führung übernimmt, die eigenen Handlungen und Worte leitet und nach und nach, fast unsichtbar, zu einem Wandel führt. Der Schlüssel dazu ist der feste Entschluss, sich nicht mehr zu heftigen Reaktionen hinreißen zu lassen und wirklich nur noch aus dieser Stille und dieser klaren Intention heraus zu handeln.
Der Weg zur Verbundenheit
Das ist natürlich alles andere als einfach. Es ist eine Sache, sattvische Kraft zu empfinden, während man meditiert, und eine ganz andere, mitten im Tumult der Handlungen mit ihr verbunden zu bleiben. Gerade weil sie so subtil ist, fühlt sich sattvische Kraft nicht immer „stark“ an. Manchmal wird man sich fragen, ob sie überhaupt ausreicht. „Ich bin so sehr daran gewöhnt, Wut und selbstgerechte Empörung als Antrieb zu benutzen, dass es wirklich schwer ist, darauf zu vertrauen, dass auch diese weiche Seite an mir eine Kraftquelle sein kann“, sagte Amy einmal. „Was, wenn ich dadurch passiv werde? Was, wenn ich einfach aufgebe und meinen Sohn meinem Ex überlasse?“
Amy hatte ganz offensichtlich Angst, in die Unbeweglichkeit von Tamas abzugleiten. Gerade bei den Aktiven, den „Machern“, liegt diese Befürchtung nahe. Sie assoziieren tamasige Energie mit Versagen und Depression und treiben sich umso gnadenloser an, ja keinen Moment der Stille zuzulassen. Dabei verlieren sie den Zugang zu ihrer wahren Kraft.
Ich konnte Amy davon überzeugen, diese Kraft auf neue Weise wahrzunehmen und anzuerkennen. Einige Wochen später hatte sie den entscheidenden Termin am Familiengericht. Sie saß im Gerichtssaal, schloss einen Moment die Augen und gab ganz bewusst ihre Erwartungen an den Ausgang des Prozesses auf. Stattdessen bat sie innerlich darum, dass die richterliche Entscheidung die Beste für ihr Kind sein möge. Sie konzentrierte sich auf diese Intention und begann, ihren Atem ganz bewusst zum Mittelkanal ihres Körpers zu lenken: einatmend zum unteren Ende der Wirbelsäule, ausatmend zum Herzzentrum. Ganz egal, was nun verhandelt und gesprochen wurde und wie sehr ihr die Angst den Bauch zusammenkrampfte, sie blieb bei diesem bewussten Atem.
Als sie dann das Wort erteilt bekam, gelang es ihr, weiter ruhig zu atmen und deutlich ihre Intention zu spüren. „Die Worte schienen ganz von selbst aus meinem Mund zu kommen“, erzählte sie mir später. „Ich spürte deutlich eine Kraft, die aus meiner Mitte kam – und in dem Moment wusste ich auch, dass ich gewinnen würde.“ Der Richter entsprach ihrem Wunsch auf gemeinsames Sorgerecht – natürlich nicht allein aufgrund von Amys Worten. Dennoch war für Amy etwas sehr Wichtiges geschehen: Sie hatte gelernt, dem tiefen Geheimnis ihrer sattvischen Kraft zu vertrauen.
So bei sich, seinem Atem und seiner inneren Mitte zu bleiben und dabei zugleich die nötige Konzentration zu halten, um angemessen und klug zu agieren, gelingt nicht ohne eine gewisse Übung. Wenn es aber gelingt, dann hat man Zugang zu einer Kraft gefunden, die auch den stärksten Stürmen des Lebens standhalten kann.
Sally Kempton ist international eine der renommiertesten Meditationslehrerinnen. Neben ihren Artikeln für das YOGA JOURNAL hat sie auch etliche Bücher veröffentlicht, darunter auf Deutsch „Meditation. Das Tor zum Herzen öffnen“.