RESILIENZ – EINE BEWEGUNG IN DIE KRAFT.

von Cindy Lee – Yoga Journal 09/2018

 

Jeder Yogi weiß: Wenn man einen Körper hat, dann spürt man etwas. Manche dieser Empfindungen sind angenehm – die warme Frische eines sonnigen Frühlingstages zum Beispiel oder der freudige Kick, wenn man unversehens in einem perfekten Handstand landet. Aber natürlich erleben wir auch Empfindungen, die wir nicht mögen – etwa einen juckenden Ausschlag, einen verstauchten Zeh – und diese Dinge wollen wir schnellstens wieder loshaben. Außerdem gibt es die ganz alltäglichen Empfindungen, etwa das Blinzeln der Lider, die Fingerkuppen auf der Computer-Tastatur, Dinge, die so gewohnt sind, dass wir sie ganz einfach ignorieren. 

Die meiste Zeit fällt uns nicht auf, wie wir durch die vielfältigen Empfindungen unseres Lebens hindurchgehen – seien sie nun angenehm, weniger angenehm oder langweilig – bis wir eines Tages gar nicht anders können:

Eine Enge in der Brust, brennende Hitze, die einem ins Gesicht steigt, oder das Gefühl, keine Sekunde länger stillhalten zu können – die Art von Empfindungen, die unweigerlich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ganz selbstverständlich lokalisieren wir sie im Körper, häufig ohne uns bewusst zu machen, dass sie zu gleichen Teilen körperlicher und emotionaler Natur sind.

Die Einheit von Körper und Geist

Das Sanskrit-Wort „Yoga“ und seine indogermanische Wurzel „yuj“ werden meistens übersetzt mit „anbinden“, „vereinen“ oder „wiedervereinen“. Das weckt unwillkürlich die Vorstellung eines Yogis, der friedvollen Geist und stabilen Körper miteinander verbindet. Wenn man sich aber ansieht, wie sich Emotionen tagtäglich durch körperliche Empfindungen mitteilen, dann beginnt man zu erkennen, was eigentlich eine Grundvoraussetzung von Yoga ist: Dass man diese Verbindung nicht erst herstellen muss, sondern dass Körper und Geist schon immer miteinander verbunden sind. Oder anders gesagt: Gefühle leben in der Haut, den Muskeln, Knochen und Organen.

Auch die westliche Medizin erkennt diese Tatsache mittlerweile an. In den 1980er Jahren beschrieb die Neurowissenschaftlerin Candace Pert erstmals, wie „Gefühle in Gehirn und Körper wie Drogen wirken“ und dass „das Gehirn nicht der einzige Speicher oder Verarbeiter von Informationen ist. Beides geschieht auch im Körper.“

Wenn einen Menschen mentales oder emotionales Unbehagen befällt, Frust, Wut, Hass, Eifersucht, Stolz oder andere Arten negativer Gefühle, die die Buddhisten (Anm.: und das Yoga Sutra) „Kleshas“ nennen, dann ist sein erster Impuls deshalb häufig, sich in intensiver körperlicher Aktivität abzureagieren: Joggen bis ans Limit, extra viele Chaturangas oder Dehnübungen bis jenseits der Schmerzgrenze sollen dann helfen, den mentalen und emotionalen Stress aufzulösen.

Doch wenn man den Körper in so einer Situation zu hart rannimmt, verstärkt das die Kleshas nur. Die unangenehmen Gefühle bewegen sich dann nicht durch den Körper hindurch, sie bleiben in ihm gefangen, schwelen und wachsen zu etwas heran, das der Begründer der Cranio-Sacral-Therapie, John Upledger, als „somato-emotionale Zyste“ bezeichnet hat. Mit anderen Worten: Kurzfristig mag sich das körperliche Durchpowern zwar gut anfühlen, aber in Wirklichkeit ist es nie mehr als ein Pflaster, das diese „Zysten“ in den Körper zurückstopft und unter Schichten von Haut, Muskeln und Knochen vergräbt.

Das Ergebnis der Pflaster-Technik: Wir leben in einer dauerhaften Blockade und spüren nicht mehr, was eigentlich vor sich geht. Aus Gewohnheit werden wir zwar weiter Empfindungen als angenehm, unangenehm oder langweilig etikettieren, aber das ist nicht dasselbe wie ein bewusstes Innehalten und Spüren: die Energie, die von einer ungefilterten Emotion ausgeht, Prana (Lebenskraft), die durch unseren Körper strömt.

Was bedeutet Resilienz?

Die Praktiken von Yoga und Buddhismus können helfen, das Verhaltensmuster des Zupflasterns von Emotionen zu durchbrechen. Sie fördern den Mut, den wir brauchen, um den Schritt mitten hinein in unsere Ängste zu wagen. Wenn wir in der Lage sind, Körper und Geist mit Neugier und Zärtlichkeit zu berühren, dann kann Resilienz beginnen zu wachsen.

Denn Resilienz ist das Gegenteil eines festen Knotens oder einer Blockade. Resilienz heißt: Bewegung. Das lateinische Wort „resilire“ bedeutet „zurückspringen“ oder „abprallen“. Folglich wird Resilienz in der Physik definiert als die Fähigkeit, eine ursprüngliche Form wieder anzunehmen, die durch Zug oder Druck verloren gegangen ist.

Aber was ist die „ursprüngliche Form“ eines Menschen? Der Buddhismus lehrt, dass wir alle mit einer grundlegenden Gutherzigkeit geboren worden sind. Demnach wäre unsere ursprüngliche Form, unsere Natur, ein erwachtes Herz voller Güte.

Aber gerade dann, wenn uns etwas aus der Bahn wirft, finden wir uns oft in einer Klesha-Attacke wieder und vergessen genau diese Gutherzigkeit und Klarheit.

Wir lassen uns von den unangenehmen Empfindungen überwältigen und anstatt sie uns ruhig anzusehen, richten wir den Blick nach außen und suchen eine Möglichkeit, ihnen zu entkommen – zum Beispiel, indem wir zu viel essen, zu viel trinken, zu viel shoppen, zu viel reden oder zu viel arbeiten.

Ehe wir es uns versehen, stecken wir mitten in einem großen, wirren Knoten fest. Genau hier setzt die Praxis an. Seien es nun yogische Meditation, Pranayama und Asana, oder buddhistische liebende Güte, Mitgefühl und Achtsamkeit: Alle diese Praktiken kann man zusammenfassen als Gewöhnungsprozesse.

Sie helfen, sich immer wieder mit seinem Atem, Körper, Herz und Verstand vertraut zu machen – oder anders gesagt: mit sich selbst. Das geschieht durch Wiederholung und Bewusstheit, den beiden wichtigsten Merkmalen eines effektiven Übens.

Mein Lehrer, Nawang Gelek Rimpoche, hat immer gesagt: „Die buddhistische Praxis ist eine fortschreitende Bewegung von der Negativität zur Positivität.“ Aber wie geht das?

Der erste Schritt der Veränderung ist das Erkennen der zupflasternden Verhaltensmuster. Nur so kann uns die Erfahrung von Leid und Kleshas den Weg zurück zur Güte von Körper und Geist weisen.

Die Achtsamkeit des Körpers

Der Prozess des Vertraut-Werdens mit sich selbst beginnt mit der Achtsamkeitspraxis. Achtsamkeit bedeutet nichts anderes als den Geist auszurichten – etwas, das wir alle unentwegt tun, denn der Geist ist ständig auf etwas gerichtet. Typischerweise haftet er an Gedanken an Vergangenheit (Bedauern und Sehnen) oder Zukunft (Planen und Proben). Vielleicht spielt er einen Song aus dem Radio oder er spult einen inneren Dialog ab. Mit anderen Worten: Die meiste Zeit springt er ungebremst von einem Gedanken zum nächsten.

Im Gegensatz dazu will die Achtsamkeitsmeditation die Aufmerksamkeit ganz bewusst auf etwas richten. Das beginnt damit, dem Geist ein bestimmtes Objekt zu geben. Der Atem eignet sich gut, denn er ist sehr persönlich und immer im jetzigen Moment präsent: Man kann nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft atmen. Indem man die Aufmerksamkeit auf die Empfindung des Atems an den Nasenlöchern richtet, bildet man einen Referenzpunkt, zu dem der wandernde Geist immer wieder zurückkehren und wo er ruhen kann.

Denn das Überraschende ist ja: Obwohl es mehr Anstrengung verlangt, den Geist bewusst auszurichten, anstatt ihn einfach abzuschalten, ruht er in der Meditation dennoch aus. Er nimmt Urlaub von Sorge, Verdrängung, Bedauern und Planen. Wenn diese Gedanken aufsteigen, dann lehrt die Achtsamkeitsmeditation, man solle den Geist an die Hand nehmen wie ein kleines Kind – sanft, aber bestimmt – und ihn zurück zum Atem führen.

Die Körper-Achtsamkeit ist eine Variante dieser Praxis. Dabei versucht der Übende, das, was in Herz und Geist geschieht, nicht zu manipulieren. Buddhisten nennen das „einen nackten Blick werfen auf die Dinge, wie sie sind“. Wenn man bemerkt, dass man sich in einem Gedankengang verfängt, lässt man sanft los und kehrt zurück zu den körperlichen Empfindungen, sei es nun der Atem, ein Dehnungsschmerz, eine Spannung im Rücken oder eine Emotion, die sich im Körper ausdrückt. Körper-Achtsamkeit kann man im Sitzen, Stehen, Gehen oder Liegen üben – und natürlich während der Asana-Praxis.

Besonders in der Kombination aus Achtsamkeit und Asana lernen wir viel über das Wesen der Vergänglichkeit: Sobald wir in einem Moment, einer Asana, einer Einatmung ankommen, gehen wir weiter zum nächsten Moment, zur nächsten Bewegung, zur Ausatmung. Immer wieder lassen wir los. Immer wieder erwachen wir zum Nächsten.

Aus dieser Weite heraus können wir beginnen, uns zu entspannen. Wir erkennen, wo wir Gedanken und Gefühle festhalten, sowohl angenehme als auch unangenehme. Wir lernen, jede Erfahrung mit Neugier zu betrachten, anstatt nur durch den Alltag und seine vielfältigen Aufgaben zu hecheln. Diese Neugier kann man in eine Praxis gießen, die sich Innere Kontemplation nennt.

Dabei fragst du dich: Was fühle ich jetzt? Berühre deinen Körper und nimm dir einen Moment Zeit, um die Empfindungen und Emotionen wahrzunehmen, die genau jetzt in dir lebendig sind.

Dann frage dich: Was denke ich? Beobachte, ob deine Gedanken positiv oder negativ sind. Erinnere dich an Gelek Rimpoche, der sagt, dass es in jeder Praxis darum geht, sich von der Negativität in Richtung Positivität zu bewegen. Erinnere dich, dass der Weg dorthin damit beginnt, dein Dukha, also dein Unbehagen, zu erkennen. Und erinnere dich daran, dass alles vergeht. Das hilft dir dabei, die Veränderungen in Körper, Energie und Gedanken still zu beobachten.

Die Kunst der Abwechslung

Jedes Jahr reisen Tausende Menschen in Retreat-Häuser oder Klöster, um sich einer formellen Meditationspraxis zu widmen. Typisch für buddhistische Retreats ist der stetige Wechsel zwischen stillem Sitzen und Gehen.

 

Dahinter steckt eine alte Tradition. Anscheinend haben die buddhistischen Mönche schon vor Hunderten von Jahren erkannt, dass die Wirksamkeit größer wird, wenn jede Meditation sowohl Ruhe als auch Bewegung enthält: Die Bewegung hält den Geist wach und der Geist stabilisiert und erdet den Körper.

Genauso wird auch das Abwechseln zwischen Alltagstätigkeiten und kleinen „Achtsamkeits-Momenten“ allmählich das Verhältnis zu deinem Körper verändern. Bestimmte Aktivitäten bewusst abzuwechseln ist nämlich nicht dasselbe wie einfach nur etwas anderes zu tun, sobald die Aufmerksamkeit nachlässt oder man sich langweilt.
Hier geht es um eine absichtsvolle Veränderung des Rahmens. Im Kontext von Körper und Geist, Stillstand und Bewegung ist das Hin- und Herwechseln eine Technik, um Resilienz zu fördern.

Eine der vielen Definitionen von Resilienz lautet: „die Fähigkeit, nach einem schlimmen Ereignis wieder stark und gesund zu werden.“ Jedes Mal, wenn du dich 2 Minuten lang der achtsamen Bewegung widmest, stärkst du die positive Gewohnheit, dich mit deiner eigenen Resilienz, deiner Kraft und Herzensgüte zu verbinden.

Wenn dann etwas Schlimmes, Verstörendes oder Herausforderndes passiert, musst du nicht mehr auf die üblichen Stressreaktionen Kampf, Flucht oder Erstarren zurückgreifen, du kannst Zuflucht in deinem Körper finden.

Du kannst innehalten, deinen Atem wahrnehmen und dich wieder mit jener Stabilität, Kraft und Klarheit verbinden, die dir immer zur Verfügung stehen.

Auf diese Weise bewegst du dich allmählich von der Verstricktheit zur Lösung, vom In-der-Falle-Sitzen zur Freiheit. Diese Praxis erfordert Geduld, Neugier und Sanftheit. Oder wie mein Lehrer Gelek Rimpoche sagte: „Tropfen für Tropfen füllt sich der Eimer“.

Mit der Zeit wird dir dieser Weg Selbstvertrauen und Widerstandskraft verleihen. So kann sich deine Herzensgüte entfalten und von dir auf andere Menschen ausstrahlen.

(Text leicht gekürzt)

Cindy Lee praktiziert Yoga und tibetischen Buddhismus seit über 40 Jahren, sie gehört zu den profiliertesten Yogalehrerinnen unserer Zeit.
Ihr besonderes Verdienst ist es, die Verbindung zwischen Yoga und Buddhismus nicht nur zu unterrichten, sondern in eine lebendige Praxis zu gießen.