JENSEITS DER STILLE.

von Sally Kempton – Yoga Journal 07/2020

 

Eines der größten Geschenke, das mir die Meditation gemacht hat, ist aus dem Kampf mit meinem Geist entstanden. Du kennst das sicher: Anstatt für die Dauer der Meditation endlich mal Ruhe zu geben, widersetzt sich der Geist hartnäckig. Er plant, kritisiert, sorgt sich, oder er grübelt über so entscheidende Fragen nach wie: “In welchem Jahr hat Kendrick Lamar noch mal seinen ersten Grammy gewonnen?”

Als ich mit dem Meditieren begann – und noch viele Jahre danach – bestanden meine Sitzungen meist aus einem 40-minütigen Gedankenwirrwarr, unterbrochen von einigen kurzen Abschnitten, in denen ich konzentriert mein Mantra wiederholte, bevor ich mich dann in den letzten 5 Minuten etwas in die Stille hinein entspannen konnte. Mich diesem überaktiven Mental-Monolog überhaupt auszusetzen, war, als würde ich es mit einem Drachen aufnehmen: Ich klammerte mich an mein Mantra wie an einen Haltestrick, während mein Drachengeist Rauch und Flammen spuckte.

Der Mantra-Strick stabilisierte mich zwar etwas, aber alle paar Minuten packte der Drachen nach ihm und schleuderte ihn wild umher. Manchmal bekam ich ihn bis zum erlösenden Piepen des Timers nicht mehr zu fassen.

Doch mit der Zeit bemerkte ich etwas Eigenartiges: Auch wenn mein Geist sich nur selten beruhigte, begann er sich doch anders zu verhalten. Ich lernte, meine Gedanken nicht mehr so ernst zu nehmen, oder vielmehr: Ich war immer besser fähig, selbst zu entscheiden, welchen Gedanken ich Gewicht verleihen wollte.

Denn genau das lernen wir beim täglichen Kampf um Fokus und Präsenz: die Unterscheidung zwischen Identität und Gedanken.

Wenn du zum Beispiel denkst: “Das schaffe ich nie!”, dann wird sich dank der Meditation irgendwann eine innere Stimme melden, die dir sagt: “Das ist nur ein Gedanke. Du musst das nicht unbedingt glauben!”

Schon wenn du jeden Tag 15 Minuten übst, kannst du eine Menge darüber lernen, wie dein Geist funktioniert und wie sich seine wildesten Regungen zähmen lassen. Du wirst erkennen, welche Gedanken dazu führen, dass du dich schlecht fühlst, welche Liebe und Klarheit fördern und welche einfach nur Lärm machen. Du kommst den unzähligen Tricks auf die Spur, mit denen der Geist dich das glauben machen will, was er dir erzählt – und du wirst erleben, dass man einen Gedanken auch loslassen kann und ihn keine Sekunde lang vermissen wird. Sogar wenn dein Gedankenstrom sich anfühlt wie ein Whirlpool aus Verwirrung und Negativität, kann dann ein Teil von dir aus diesem Strudel aussteigen und zum Beobachter werden.

Der erste Schritt

In manchen spirituellen Traditionen gilt die Erkenntnis “Ich bin der Beobachter, nicht die Gedanken!” als das Ziel. Und wirklich birgt diese Unterscheidung einen wichtigen Schlüssel zum persönlichen und spirituellen Wachstum, denn sie macht einen sehr viel freier. Die Achtsamkeitsmeditation, moderne Zen-Schulen und auch Schüler von Ramana Maharshi lehren deshalb, man solle sich als Beobachter und Zeuge identifizieren, anstatt mit seinem Körper, der Persönlichkeit und den eigenen Gedankenkonstrukten.

In anderen Traditionen stellt diese Entdeckung des inneren Beobachters dagegen nur einen Aspekt oder einen ersten Schritt dar. Besonders die tantrische Philosophie nimmt gegenüber dem Geist eine eher praktische und, wie ich finde, sehr spannende Haltung ein:

Sie sieht den kreativen menschlichen Geist als Teil einer viel umfassenderen, absoluten Kreativität – jener subtilen intelligenten Energie also, die allem Leben unterliegt und die manche Gott nennen.

Tantrische Gelehrte behaupten daher, der menschliche Geist sei nichts anderes als die mikrokosmische Version des Universalgeistes.

Ein wichtiger Text aus dieser Tradition, das Pratyabhijnahrdayam, erläutert, dass dieser Universalgeist sich in einer Art physikalischer Verdichtung in menschlichen Geist verwandelt:

So wie Wasser die Form von Dampf haben, zu Wasser kondensieren und zu Eis gefrieren kann, so können auch Gedanken zum einen sehr fest erscheinen, sich aber auch auflösen, verflüchtigen und in verschiedenen Formen wieder Gestalt annehmen.

Demnach sind unsere Gedanken so etwas wie kondensierte Tropfen des Bewusstseins: Einerseits sind sie so insubstanziell wie Wolken. Andererseits sind sie genau wie Wolken auch Energieträger – und gegen diese Energie kann man sich wappnen, man kann sie formen und mit ihr spielen.

Mit anderen Worten: Man kann einen negativen Gedanken in einen positiven umwandeln und so die eigene Stimmung und sogar den Körperzustand beeinflussen. Und man kann seine Vorstellungskraft dazu nutzen, einen positiven Ausgang für ein bestimmtes Vorhaben zu visualisieren, und damit dessen Ausgang maßgeblich beeinflussen.

Gedanken sind also kreative Kräfte.

Bewusst oder unbewusst sind sie die Werkzeuge, mit denen wir unsere Erfahrung formen.

Natürlich besitzt nicht jeder alltägliche, zufällige Gedanke diese Kraft, doch wenn man sie zu bündeln und zu nutzen weiß, dann kann auch die Energie der kleinen Alltagsgedanken zu einer liebevolleren und kraftvolleren Realität beitragen.

Sich das Kommen und Gehen der Gedanken bewusst zu machen, ist dabei der erste Schritt.

Nur wenn wir diesen entscheidenden kleinen Schritt zur Seite machen und etwas Abstand gewinnen, wird es auch möglich, die kreativen Kräfte unseres Geistes bewusst zu lenken.

Den Geist formen

Neurowissenschaftler nennen den Zustand, in dem wir eher unbewusst auf dem Gedankenkarussell mitfahren, wo sich die immer gleichen (oft negativen) Denkmuster abspielen, das “Default Mode Network” des Gehirns. Meditation hat nachweislich die Kraft, dieses Netzwerk abzuschalten. Das versetzt uns in die Lage, in jenes kraftvolle, subtile Feld der Intelligenz vorzudringen, das wir Geist nennen. In diesem Zustand haben die unkontrollierten Bewegungen unseres eigenen mentalen Geplappers (im Yoga nennen wir sie Vrittis) keine Macht mehr über uns. Die Weisen des Yoga wissen seit sehr langer Zeit um diese Zusammenhänge.

In einem Text des Vedanta heißt es lapidar: “Bewusstsein plus Gedanken ist Geist. Bewusstsein ohne Gedanken ist Gott.”

Diese Idee und das, was aus ihr folgt, ist radikal. Das bemerkten auch schon die westlichen Denker des ersten Jahrhunderts, die die indische Philosophie für sich entdeckten. Pragmatische Idealisten wie Ralph Waldo Emerson und William James verstanden, welche immense Kraft die Imagination demzufolge haben musste.

Sie erkannten, dass wir unser Leben dramatisch verändern können, wenn wir es verstehen, den Geist von seinen konditionierten Vorstellungen über unsere eigenen Möglichkeiten zu befreien.

Genau dieses Formen der eigenen Gedankenwelt kann in der täglichen Disziplin der Meditation geschehen. Wenn du beispielsweise deine morgendliche Meditation immer wieder mit der Intention einleiten “Ich bin konzentriert, bewusst und liebevoll”, dann wirst du mit der Zeit feststellen, dass diese Affirmation einen Einfluss darauf hat, wie du dich den Tag über bewegst, handelst und denkst.

Natürlich vergisst du den konkreten Gedanken immer wieder, aber irgendwann wirst du im Rückblick erkennen, dass er ein anderes Klima in deinem Geist erzeugt hat. Du bist tatsächlich konzentrierter, bewusster und liebevoller, als du es zuvor warst.

Mit anderen Worten: Du hast das subtile Material deines eigenen Bewusstseins geformt und schöner gemacht.

Genauso kannst du die Kraft der Visualisierung nutzen, um dir eine Zukunft mit mehr Fülle und Erfüllung für dich oder andere auszudenken. Du kannst Fragen stellen und Antworten erhalten.

Du kannst Segenswünsche aussenden und dir sogar eine Welt ausmalen, in der sich die Menschen sorgsam umeinander und den Planeten kümmern.

Wenn du die pure Kraft deiner Gedanken erst einmal unmittelbar erfahren hast, kannst du ein Aktivist des Subtilen werden: So nutzt du eigenes Bewusstsein, um spürbare Veränderungen der Atmosphäre zu bewirken.

Dieses Prinzip kann man auf jeden Aspekt des Lebens anwenden – in der Familie, in Organisationen und sogar auf politischer Ebene – und es wird umso kraftvoller, wenn man es zum Wohl anderer und der Welt einsetzt.

Sally Kempton ist international eine der renommiertesten Meditationslehrerinnen. Neben ihren Artikeln für das YOGA JOURNAL hat sie auch etliche Bücher veröffentlicht, darunter auf Deutsch „Meditation. Das Tor zum Herzen öffnen“.