INSELN DER RUHE.

von Sally Kempton – Yoga Journal 03/2017

 

Letztens habe ich an einer Yogastunde bei einem beliebten Yogalehrer in Los Angeles teilgenommen. Der Raum war voll schlanker, eifriger Yoginis, die sich wie Synchronschwimmerinnen durch die Vinyasa-Reihen bewegten. Nach etwa 15 Minuten rief der Lehrer alle zu sich, um ein paar Ausrichtungsdetails zu demonstrieren. Etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen ging vor zum Lehrer, die andere Hälfte ergriff ihre Handys, um neue Nachrichten zu checken.

Jetzt könnte man ja annehmen, dass diese Frauen Ärztinnen in Bereitschaft oder Mütter mit kleinen Kindern sind. Ich vermute jedoch, dass sie – wie so viele – unter dem Inneren-Unruhe-Syndrom leiden:

Dieses atemlose, nach Stress süchtige Gefühl, ständig zu viel zu tun und viel zu wenig Zeit dafür zu haben.

Innere Unruhe, ein Konstrukt aus Gedanken, Glaubenssätzen und körperlichen Reaktionen, kann sicher auch durch einen besonders hektischen Tag oder eine Menge konkurrierender Aufgaben ausgelöst werden. Doch wenn man lediglich im Außen beschäftigt ist, ist dieser Zustand überschaubar; innere Unruhe hingegen verschwindet nicht einfach, wenn alle Aufgaben erledigt sind.

Im Außen beschäftigt zu sein – wenn man zum Beispiel Job und Kinder oder alle möglichen anderen Verpflichtungen unter einen Hut bringen muss – erzeugt einen Druck, der bewältigt werden kann. Dies kann sogar zum yogischen Weg werden, wenn man damit zu praktizieren weiß.
Innere Unruhe dagegen überwältigt einen.

Wenn mir also jemand sagt, dass er oder sie zu beschäftigt ist, um Yoga zu üben, frage ich immer nach, um welche Art von Beschäftigtsein es sich handelt – äußerlich oder innerlich.

Als Selbsttest kannst du dich fragen, was passiert, wenn du keine unmittelbare Verpflichtung hast: Eigentlich hättest Du Zeit für ein paar Runden Ujjayi-Atmung oder einfach, um kurz abzuschalten: Denkst du stattdessen darüber nach, was du noch tun müsstest? Das ist innere Unruhe!

Mit der Geschäftigkeit verhält es sich ähnlich paradox wie mit Stress, denn eigentlich ist der Mensch für Aktivität geschaffen. Betrachtet man unseren Verstand, unsere Muskeln oder Überlebensstrategien, lautet das Motto: Unsere Fähigkeiten nutzen, um sie zu erhalten und weiter zu entwickeln – oder sie nicht nutzen und das Risiko einzugehen, sie zu schwächen oder gar zu verlieren.

…Und natürlich beschert es uns auch eine Menge Glück, wenn wir unsere Fähigkeiten nutzen. Wenn sie die Wahl hätten, würden die meisten Menschen sicher ein ausgefülltes Leben wählen – auch auf die Gefahr hin, dass sie viel zu tun haben.

Glück ist flüchtig, wenn wir ihm nachjagen – und doch schleicht es sich oft ganz von selbst ein, wenn wir komplett in eine Sache vertieft sind.

Die Geschäftigkeit hat aber auch eine dunkle, zwanghafte Seite. Man fühlt sich überfordert, von der täglichen Agenda vorangetrieben, immer besorgt, was passiert, wenn man etwas loslässt. Man funktioniert auf der Basis von Koffein und Adrenalin, reagiert mit Ungeduld auf seine Kinder und fühlt sich irgendwie schuldig.

Vielleicht fürchtet man sich davor, zufällig Freunden zu begegnen, weil man stehenbleiben und mit ihnen sprechen müsste. Wenn man so sehr in Eile ist, konzentriert man sich nur noch auf die Verpflichtungen und ignoriert sowohl die eigenen als auch die Bedürfnisse der anderen.

Das Phänomen der inneren Unruhe wurzelt in der Einstellung gegenüber dem Faktor Zeit.

Das Arbeitstempo steigt in unseren modernen industriellen und post-industriellen Gesellschaften und dadurch wird Zeit als begrenztes, ständig schwindendes Gut wahrgenommen.

Weil Zeit so knapp scheint, versuchen die Menschen, in jede Minute maximale Produktivität zu quetschen.

Umso weniger Zeit verbringen sie mit Meditation, Kontemplation oder Gesang – denn solche Aktivitäten können nicht anhand ihres Ertrags im Verhältnis zur investierten Zeit gemessen werden. Sogar wir Yogis, die doch eigentlich den Blick auf tiefere Schichten des Lebens richten, teilen die von Grund auf die Überzeugung, dass das, was wir tun, ein messbares Ergebnis hervorbringen muss.

Bei wie vielen von uns wurde das Interesse an Meditation erst richtig geweckt, als eine Studie der Universität von Wisconsin zeigte, dass Meditierende die für Glück zuständige Region im Gehirn aktivieren können? Implizit erwarten wir von unserer Praxis einen messbaren Gewinn: Vielleicht wünschen wir uns, dass sie unsere Karriere beflügeln oder uns wenigstens soweit regenerieren soll, dass wir wieder funktionieren und noch mehr arbeiten können.

Schätzen wir unsere spirituelle Praxis nur, wenn sie uns im weltlichen Leben weiterbringt – anstatt sie als Quelle von innerem Frieden zu verstehen? Dies wäre eine Ursache für innere Unruhe.

… Es ist vollkommen natürlich, ein gesundes Selbstwertgefühl daraus zu entwickeln, dass man sich in der Welt engagiert.

Doch wenn man sich wichtig fühlt, weil man so viel zu tun hat, füttert man eher sein Ego.

Im Kern der Sucht unseres Egos nach Geschäftigkeit liegt dabei eine tiefe Angst vor der eigenen Leere. Das Ego fühlt: „Wenn ich beschäftigt bin, bedeutet das, dass ich existiere. Ich bin wertvoll. Ich werde gebraucht.“

Unsere Kultur trägt sicher auch zu der Überzeugung bei, dass Betriebsamkeit mit Produktivität und Bedeutung gleichzusetzen sei.

Wer sind wir, wenn wir nicht produktiv oder beschäftigt sind?

Fühlten wir uns ohne unseren Job bedeutungslos? So als ob das Dasein dann keinen Wert hätte, wenn wir nicht irgendetwas Wichtiges, Nützliches zu erledigen haben?

Wenn solche Empfindungen da sind, ist es wichtig, sie anzunehmen. Sich in die Angst hinein zu begeben, ausgeschlossen zu werden – und in die dahinter liegende Angst der Nicht-Existenz. Wenn du dich durch diese Ängste hindurchbewegen kannst, kann es geschehen, dass du plötzlich den Teil von dir fühlen kannst, der tiefer ist als die Angst, allein zu sein, tiefer als die Angst, nicht zu genügen, tiefer als Traurigkeit oder Langeweile.

Wenn es dann darum geht, dies in den Alltag umzusetzen, wäre der erste Schritt, weniger zu tun. Das ist nicht immer einfach, besonders für diejenigen, die kleine Kinder oder einen sehr fordernden Job haben.

Doch du kannst entdecken, dass du mehr Zeit hast, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn du eher unwichtige Extras ablehnst.

Um mit äußerem Beschäftigtsein zurechtzukommen, benötigt man fast immer praktische Lösungen: Man muss delegieren, manche Verpflichtungen loslassen oder einen wöchentlichen Ruhetag einlegen. Innere Unruhe jedoch fällt in yogisches Terrain. Denn um innere Unruhe wirklich anzugehen, braucht es zwei Aspekte des Yoga.

Zum einen sind innere Techniken nötig, die einen zurück zur Mitte bringen. Selbst wenn du noch nicht bereit bist für eine regelmäßige Meditationspraxis, kannst du damit arbeiten, immer wieder einmal bewusst innezuhalten, um dich zu zentrieren. So schaffst du kleine Inseln, auf die du dich immer wieder zurückziehen kannst.

Mit der Zeit wird sich das Gefühl von Raum, dass du in diesen Augenblicken wahrnehmen kannst, ausdehnen – sodass du es irgendwann abrufen kannst, wann immer du das möchtest.

Der zweite Aspekt ist wesentlich anspruchsvoller: Er fordert eine innere Haltung, die es dir ermöglicht, alles mit yogischer Achtsamkeit zu tun. Anderenfalls kann es sein, dass du zwar wundervolle Dinge in die Welt bringst – Kunstwerke kreieren, sich für Flüchtlinge oder den Umweltschutz engagieren – dich dabei aber überfordert oder ausgebrannt fühlst.

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Eine alte Zen-Geschichte erzählt von zwei Mönchen, die vor ihrem Tempel aufeinandertreffen. Der eine fegt die Tempelstufen. Der andere schimpft ihn, weil er fegt, anstatt zu meditieren: „Du bist zu beschäftigt!“ Daraufhin antwortet der arbeitende Mönch: „Du solltest doch wissen, dass es einen in mir gibt, der mit überhaupt nichts beschäftigt ist.“

Derjenige (in uns selbst), der mit nichts beschäftigt ist, ist unser eigenes reines Sein, diese unveränderliche Präsenz in uns, die uns mühelos mit dem Herzen des Universums verbindet und mit dem grundlegenden Gefühl durchtränkt, dass alles gut ist.

Der Mönch konnte im Hier und Jetzt aus einem Zustand von Stille und Zeitlosigkeit heraus handeln, da er selbst in Aktion nie den Kontakt mit dem wahren Sein verlor.

Innere Unruhe resultiert aus dem Gefühl, nicht genügend Zeit zu haben. Wenn wir jedoch mit einem inneren Fokus handeln, hebt uns das aus der Abhängigkeit von Zeit heraus und verwurzelt uns in dem Raum, wo immer genügend Zeit vorhanden ist.

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Vermutlich hast du bereits einen Augenblick erlebt, in dem sich dein Verhältnis zur Dimension Zeit verändert hat. Vielleicht warst du vollkommen in einer Aufgabe versunken. Oder du fühltest diesen Zustand, als du in einer Asana plötzlich völlig und mühelos präsent warst.

In dem einen Moment befindest du dich noch in der „normalen“ Zeit und wünschst dir sogar, sie möge schneller vergehen. Im nächsten verlangsamt sie sich und du bist genau in der Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft.

In diesem Spalt zeigt sich eine zeitlose und ewige Gegenwart.

Es gibt keinen Zeitdruck, weil Zeit nicht existiert. Wenn du diese Zone betrittst, hast du alle Zeit, die du brauchst, um deine Aufgaben zu erledigen.

Vor Jahren hielt ich meine ersten öffentlichen Reden und einmal war ich viel zu spät dran. Also beeilte ich mich und konnte fühlen, wie dabei Angst durch den ganzen Körper kroch. Plötzlich tauchte aus meinem Inneren die Frage auf, was ich da eigentlich tat. Ich versuchte den Gedanken zu unterdrücken und eilte weiter, doch er kam erneut. Und dann sah ich die Ironie, den Widerspruch: Ich sollte eine spirituelle Rede halten, doch meine Eile entfernte mich komplett von meiner spirituellen Quelle!

Ich hielt für einen Augenblick an und atmete ein paar Mal tief und langsam, bis ich spürte, dass die Angst langsam von meinem Schultern und meinem Nacken abfloss.

Als ich weiterging, erkannte ich, dass ich mich anders fühlte. Ob es nun die kurze Atemübung gewesen war oder Entschluss, mich nicht mehr zu beeilen: Irgendetwas hatte mich aus der Zone der Betriebsamkeit in eine innere Ruhe versetzt. Immer noch auf den Atem konzentriert, kam ich 5 Minuten zu spät, doch ich war so präsent, dass ich direkt in meine Rede hineinglitt – ganz ohne Hänger und Nervosität.
Diese Erfahrung war eine Art Wendepunkt für mich.

Die Veränderung lag in dem Entschluss, mich in einem Stressmoment nach innen zu richten und dem „Spalt“ Raum zu geben – dieser Stille, in der die Zeit sich verlangsamt.

Derjenige, der nicht beschäftigt ist, existiert zwischen zwei Atemzügen und zwischen zwei Gedanken. Am Ende einer Aktion und vor dem Beginn der nächsten können wir mit der Quelle allen Handelns verschmelzen: Dem stillen Punkt zwischen sich drehenden Welten. Im Sanskrit gibt es für diese Lücke den Begriff „madhya“ – sie ist das Tor zur Unendlichkeit eines jeden Augenblicks. Normalerweise erkennen wir das nur nicht.

Wenn wir meditieren, üben wir, den Ort der Stille in uns zu finden und in ihm zu verweilen.

Sobald wir fähig sind, ihn mit geschlossenen Augen zu bewohnen, können wir damit beginnen, ihn auch inmitten aller Aktion wahrzunehmen.

Für diese Form der Meditation braucht man allerdings Übung: Man kann in der Alltagshektik nicht meditieren, bevor man nicht im Sitzen praktiziert hat.

Eine regelmäßige Sitzmeditation bereitet einen darauf vor, das Gefühl eines ruhigen Geistes zu erkennen. Dadurch hat man bessere Chancen, diese Stille auch in der Aktion zu finden.

Nach jahrelanger Konzentration auf jenen Raum im Inneren, der nicht beschäftigt ist, habe ich gelernt, mich in diese stillen Momente hineinzubegeben, statt sie einfach vorbeiziehen zu lassen.

Wenn ich anhalte, um die Stille zu würdigen, können meine anschließenden Taten aus diesem ruhigen Ort fließen.
Dadurch haben sie eine Kraft, die ich mit einem gewöhnlichen Geist nie erreichen könnte.

…Das wahre Geschick in der Handlung liegt darin, dass ein natürlicher Fluss entsteht, wenn man aus vollkommener Ruhe handelt. Man ist frei ein seinen Handlungen, da man weiß, dass einen weder die Handlung noch deren Folgen berühren können. Man ist lediglich Beobachter: Wann immer Aktion geschieht, lehnt man sich zurück und lässt geschehen.

Paradoxerweise kann man sich trotzdem völlig in eine Tätigkeit vertiefen, gerade weil man frei von Angst und der Erwartung eines bestimmten Ergebnisses ist.

Unsere täglichen Aufgaben und Handlungen in Yoga zu verwandeln, ist wie ein wiegender Tanz:

Man gibt einerseits sein Bestes und übt sich andererseits darin, jedes Ergebnis anzunehmen. Wenn man sich um seine täglichen Verpflichtungen kümmert, steckt Yoga in der Absicht, sich immer wieder mit dem Teil seiner selbst zu verbinden, der ganz still ist.

Vielleicht findest du diese Instanz nicht sofort, doch wenn du beharrlich versuchst, Stille in der Aktion zu finden, wirst du sie finden. Von diesem ruhigen Ort aus kann Anstrengung mühelos werden.

Dann wird Handlung zu Yoga.

 

 

(Text leicht gekürzt)

Sally Kempton ist international eine der renommiertesten Meditationslehrerinnen. Neben ihren Artikeln für das YOGA JOURNAL hat sie auch etliche Bücher veröffentlicht, darunter auf Deutsch „Meditation. Das Tor zum Herzen öffnen“.