GEFÜHLEN NACHSPÜREN.

von Richard Miller – Yoga Journal 09/2018

 

Wenn Emotionen wie ein Sturmwind durch den Körper tosen, dann fühlt man sich ihnen oft wehrlos ausgeliefert. Ist man zum Beispiel wütend, dann empfindet man Spannung im Bauch oder das Herz klopft wie wild. Aufwühlende Gedanken können uns manchmal stunden-, wenn nicht tagelang verfolgen. Das liegt daran, dass Wut oder Mitgefühl, Angst oder Euphorie, Glück oder Traurigkeit das Nervensystem dazu veranlassen, Botenstoffe ins Blut abzugeben, die unsere Aufmerksamkeit von anderen Dingen abziehen. Sind diese Gefühle richtig stark, dann erscheinen sie einem manchmal wie Feinde. Doch die Weigerung, Emotionen anzunehmen, führt nur dazu, dass sie immer wiederkehren: Sie versuchen nämlich, wichtige Informationen zu übermitteln.

Forschungen zu emotionaler Resilienz zeigen, dass man nur dann gut durchs Leben navigieren kann, wenn man in der Lage ist, die eigenen Empfindungen zu benennen und zu verstehen, was sie auslösen. Bei dieser Bewusstwerdung kann die Meditation eine wichtige Hilfe sein. Sie lehrt uns zu beobachten, zu verstehen und auf Situationen angemessen einzugehen, statt blind auf sie zu reagieren. So kann zum Beispiel Wut dazu dienen, auf eine bestimmte Erwartungshaltung aufmerksam zu machen.

Richtig verstanden, kann die Emotion dir helfen, auf die äußeren Umstände so einzugehen, dass du in Harmonie mit deiner Umgebung bleibst.

Meditation kann Achtsamkeit erzeugen. Diese Achtsamkeit brauchst du, um deine Gefühle nicht nur wahr-, sondern auch anzunehmen und zu verstehen. Dann sind Emotionen eben nicht der Feind, sondern im Gegenteil, eine Hilfe. Wie du selbst wollen sie gesehen, gehört, gefühlt und angenommen werden. Sie ringen um Aufmerksamkeit, damit sie dir helfen können, innezuhalten und Zugang zu den Informationen zu bekommen, die du brauchst, um nicht nur zu überleben, sondern zu wachsen und zu gedeihen.

Triffst du zum Beispiel auf eine gefährliche Situation in der Wildnis, dann dient deine instinktive Furcht als Botschaft, sich in Sicherheit zu bringen. Ist ein Freund oder Freundin, ein Kollege oder eine Kollegin allzu fordernd, dann hilft dir dein Ärger, klare Grenzen zu setzen.
Damit die Situation aber wirklich gut gelöst werden kann, kommt es in beiden Fällen darauf an, nicht blind auf das Gefühl zu reagieren, sondern die darin verborgene Botschaft zu verarbeiten.

In den kommenden Übungen geht es zunächst darum, Emotionen anzunehmen. Dann werden wir unsere Aufmerksamkeit auf das jeweils gegenteilige Gefühl richten – etwa inneren Frieden inmitten von Wut. Auch diese vielleicht überraschende Technik verbindet dich mit deinen Emotionen, zugleich hilft sie aber, aus negativen oder destruktiven Reaktionsmustern herauszufinden.

Wenn es dir gelingt, jede Emotion und auch ihr genaues Gegenteil wirklich anzunehmen, dann haben Angst und Wut nicht länger Macht über dein Leben und die ewige Selbstverurteilung verliert ihren Stachel. Stattdessen gedeihen Selbstliebe, Milde und Mitgefühl.

Neurologisch betrachtet deaktivieren die heraufbeschworenen gegenteiligen Emotionen unser Default-Mode-Netzwerk und limbisches System. Diese sind dafür verantwortlich, dass man manchmal in negativen Gedanken gefangen ist.

Umgekehrt werden das Defocusing Netzwerk und Hippocampus aktiviert. Das verhilft dir zu Einsicht und Perspektive und ermöglicht es dir, aus reaktiven Verhaltensmustern auszubrechen.

Übung 1: Gefühle annehmen

Halte die Augen offen oder geschlossen und stimme dich zunächst auf deine Umgebung ein: Nimm ferne und nahe Geräusche wahr, spüre die Luft auf deiner Haut, den Boden, der dich trägt. Mach dir bewusst, welches Gefühl gerade in deinem Körper präsent ist. Wo und wie empfindest du diese Emotion? Wie lassen sich diese Empfindungen am besten beschreiben?

Dann stell dir vor, das Gefühl träte durch eine Tür ein. Bleibe bei dem ersten Bild, das vor deinem inneren Auge aufsteigt: Wie sieht die Emotion aus? Welche Form, welche Größe hat sie? Wenn sie eine menschliche Gestalt hat, wie alt ist sie dann? Wie ist sie gekleidet?

Lass dir ein bisschen Zeit, um diese Emotion und ihre äußere Erscheinung willkommen zu heißen.

Im nächsten Schritt stell dir vor, dass das Gefühl in einem angenehmen Abstand vor dir steht oder sitzt.

Frage: „Was willst du?“ und höre, was die Emotion zu sagen hat.

Frage: „Was brauchst du?“ und schließlich: „Was soll ich tun?“

Nimm dir etwas Zeit, um diese Eindrücke in Körper und Geist zu verarbeiten. Wenn du bereit bist, öffne behutsam die Augen, kehre zurück und danke dir selbst dafür, dass du dir Zeit für diese Meditation genommen hast. Anschließend schreibe kurz auf, was du mitnehmen möchtest, um das Gefühl jetzt gut zu verarbeiten. Nimm dir vor, das in deinem Alltag zu verfolgen.

Übung 2: Konzentration auf das Gegenteil

Zu jedem Gefühl gibt es ein Gegenteil: Sorge existiert nicht ohne inneren Frieden, Furcht nicht ohne Mut, Traurigkeit nicht ohne Glück und Hilflosigkeit nicht ohne Selbstvertrauen.

Erlebt man immer nur den einen Teil eines Paares (etwa Traurigkeit ohne Glück), dann bleibt man in einer einseitigen Erfahrung hängen. Erst wenn man aufhört, dieses unangenehme Gefühl loswerden zu wollen, und sich stattdessen für die ganze Bandbreite an Gefühlen öffnet, kann man sich wirklich befreien. Natürlich ist das nicht immer einfach, etwa wenn man unter schweren Ängsten leidet. Dennoch kann dir die folgende Übung oft genau jene Erleichterung verschaffen, mit deren Hilfe du erkennst, was nötig ist, damit du echte Veränderungen herbeiführen kannst.

Halte die Augen offen oder geschlossen und stimme dich zunächst auf deine Umgebung ein: Nimm ferne und nahe Geräusche wahr, spüre die Luft auf deiner Haut, den Boden, der dich trägt.

Spüre, welches Gefühl im Augenblick in deinem Körper präsent ist oder erinnere dich an ein Gefühl, mit dem du es in deinem Leben immer wieder zu tun hast.

Nimm wahr, wo und wie sich diese Emotion in deinem Körper ausdrückt.

Heiße das Gefühl so willkommen, wie es ist, ohne zu werten oder zu versuchen, es zu ändern.

Im nächsten Schritt denke an das Gegenteil dieser Emotion und nimm wahr, wo und wie du dieses Gegenteil in deinem Körper erlebst. Vielleicht hilft dir eine bestimmte Erinnerung, dieses Gegenteil noch vollständiger in deinen Körper einzuladen, zum Beispiel ein Moment ruhigen Glücks während eines Urlaubs.

Wenn es sich richtig anfühlt, kannst du dich eine Weile zwischen den beiden Gegensätzen hin- und herbewegen und dabei beobachten, wie diese beiden Gefühle Körper und Geist beeinflussen.

Wenn du dazu bereit bist, spüre nun beide Emotionen gleichzeitig. Wie fühlt sich das an?

Als nächstes wechsle zwischen einem allgemeinen Wohlgefühl, den beiden Gegensätzen und der Kombination der Gegensätze hin und her: Wie fühlen sich Körper und Geist dabei?

Bevor du die Meditation abschließt, öffne und schließe ein paarmal die Augen und öffne dich für tiefe Entspannung, Leichtigkeit und Frieden. Versichere dir, dass auch in deinem Alltag tiefe Entspannung und Wohlgefühl deine ständigen Begleiter sein werden.

Anschließend öffne die Augen, kehre zurück und danke dir selbst dafür, dass du dir Zeit für diese Meditation genommen hast. Schreibe auf, was dir durch den Kopf geht und was du dir für den Alltag vornehmen möchtest.

(Text leicht gekürzt)

Dr. Richard Miller ist Gründungsvorsitzender des Integrative Restoration Institute, Mitbegründer des internationalen Verbands für Yogatherapeuten und
Autor von „iRest Meditation and Yoga Nidra“.