Bewusst sein, um politisch zu werden?
von Andrea Goffart – Yoga World Juli-August/2024
Wenn wir über Politik nachdenken, denken wir über das Zusammenleben von Menschen nach.
Yoga kann die Art verändern, wie wir in der Welt stehen und uns auf sie beziehen:
Im besten Fall macht es uns klarer, bewusster, mitfühlender.
Ist Yoga also politisch? Sollte es politisch sein? Oder gerade nicht?
Kann es sich heute noch irgendjemand leisten, nicht politisch zu sein? Krise, Krieg, Klimawandel – allein schon diese drei „K“ scheinen uns pausenlos aufzufordern, für das einzustehen, was uns wichtig ist. Auch Yogalehrende und -praktizierende sind zunehmend gefragt, eine Haltung einzunehmen – nicht nur auf der Matte.
Andererseits benötigen viele Menschen gerade in dieser anstrengenden, kräfteraubenden Zeit Rückzugsräume, in denen sie Ruhe finden und einfach nur sein können. Für viele von uns ist die Yogapraxis so ein Raum. Ist das ein Widerspruch oder bei genauerer Betrachtung vielleicht sogar ein Gleichklang?
Möglicherweise dürfen wir als Yogi*nis genau das lernen: Selbst sein, ruhig sein, bewusst sein, um politisch zu werden.
Wobei wir vielleicht zunächst klären sollten, was es eigentlich bedeutet, „politisch“ zu sein. Politik findet Antworten auf die Frage, wie das Leben zwischen Menschen organisiert werden kann. Oft wird das mit dem Begriff „Staatskunst“ umschrieben, doch was ist der kleinste gemeinsame Nenner eines Staates? Es wird der Mensch sein – überall auf der Welt.
Wenn wir uns also der Frage nach der politischen Bedeutung eines Tuns oder Lassens zuwenden, egal ob wir über Yoga oder Fußball philosophieren, dann stolpern wir fast unumgänglich über diejenigen, die da etwas tun oder lassen – über Menschen. Und meistens stolpern wir über uns selbst. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist jedes Handeln, das Auswirkungen auf „das Leben zwischen Menschen“ hat, ein politisches Tun. Dann wird jede Gemeinschaft, jede Beziehung politisch.
Ist Yoga also eine politische Kraft?
Wie alles, was wir als Handelnde kreieren, ist auch Yoga ein Spiegel der Gesellschaft. Allerdings nur, wenn wir mutig sind und in diesen Spiegel schauen! Was sehen wir dann?
Wir sehen zum Beispiel Menschen, die Yoga machen, um gesünder zu werden, resilienter zu werden, straffere Popos zu bekommen und hübsche Selfies aus dem indischen Ashram zu posten. Yoga ist – ob es uns gefällt oder nicht – im tiefen Tal der Zweckerfüllung angekommen.
Im Interview erklärt die Politologin und Yogalehrerin Zineb Fahsi, wie sehr die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt sind von Effizienzdenken: Fast alles, was getan wird, folgt einem „Umzu“.
Wir wollen etwas damit erreichen. Wollen wir Yoga jetzt auch noch politisieren? – Folgen wir damit nicht genau jener ungesunden Logik, von der Fahsi spricht: Du alleine bist zuständig. Sei du die Veränderung, die du in der Welt sehen willst!
Wir leiden an Flug-Scham und Sparzwang, fühlen uns zuständig für alle Übel der Welt und setzen unser Sein und Handeln konsequent in den Kontext dieser All-Zuständigkeit. Sollten wir Yoga da nicht lieber herauslösen?
Aber vielleicht müssen wir das gar nicht, denn die Weisheitstradition ist sowieso schlauer als wir: „Von der vedischen Tradition der Askese, in der Yoga wahrscheinlich seinen Ursprung hat, bis zum bedufteten und nach Feng-Shui-Kriterien gestalteten Yoga-Loft mit Blick auf den Hamburger Hafen ist es ein weiter Weg“, schreibt Milena Wilbrand in ihrem Buch „Lebenszeit – Yoga im Jetzt“. Auch sie sieht eine Tendenz, dass Yoga im allgemeinen Höher-Schneller-Weiter zu einer weiteren Leistungseinheit wird, die erbracht werden muss. „Und doch“, vermutet sie: „Vielleicht unterschätzen wir die Geister, die wir in die schöne neue Yogawelt gerufen haben. (…) Leise, still und heimlich wirkt Yoga durch die Hintertür und wer weiß schon, was alles möglich ist.“
Handeln Yogis ethischer?
„Leise, still und heimlich“ kann Yoga demnach die Art verändern, wie wir in der Welt stehen und uns auf diese beziehen. Das fängt schon bei der achtsamen Asana-Praxis an: Wir erleben uns in der Öffnung des Herzens, wir fühlen uns ein in die Stellung des Kriegers und werden über diese Selbst-Erfahrung auch immer versierter in der Fähigkeit, uns in andere einzufühlen. Über dieses sich vertiefende Mitgefühl kann uns Yoga die Grundausstattung für unser politisches Handeln liefern – für ein Handeln, das sich in Bezug setzt zur Polis, zur Gemeinschaft.
Wenn wir unsere Yogapraxis wirklich ernst nehmen, dann werden wir uns irgendwann mit der Ethik des Yogaweges auseinandersetzen, die laut Patanjali die Basis jeder Praxis sein muss: Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit, Genügsamkeit –
die meisten in den Yamas und Niyamas dargelegten Prinzipien wirken unmittelbar in das menschliche Miteinander hinein. Aber „müssen“ Yoga-Praktizierende ethischer handeln, moralischer denken? Haben sie mehr Verantwortung, weil sie mit dem „großen Ganzen“ per Du sind? Ich weiß es nicht – was meinst du?
Eines zumindest kann ich für mich beantworten: Bei der Frage, ob Yoga politisch ist, geht es nicht so sehr darum, ob Yoga-Praktizierende oder -lehrende für Demokratie und „gegen rechts“ aufstehen oder nicht. Das bleibt ihre Sache.
Es ist wie in allen Berufssparten und gesellschaftlichen Gruppen – manche tun das, andere tun das nicht. Genau wie aus der Ärzteschaft oder aus der Wissenschaft oder aus den Gewerkschaften heraus aktuell Demonstrationen initiiert, Gesprächsrunden konzipiert und offene Briefe geschrieben werden, so gibt es auch in der Yogawelt Protagonist*innen, die öffentlich für ihre Werte einstehen, die sie für wichtig und essenziell halten.
Für mich hat dieses öffentliche „Haltung zeigen“ nicht spezifisch mit Yoga zu tun – eher mit den gesamtgesellschaftlichen Fragen, die sich an uns alle gleichermaßen richten, Yogi*ni oder nicht.
Weniger Meinung – mehr Mensch
Bedeutet politisches Handeln, Position gegen etwas zu beziehen? Dann könnte man einwenden: Yoga ist grundlegend unpolitisch! Widerspricht das Einstehen für eine Seite und gegen eine andere – für Demokratie oder gegen Krieg, für Grün oder gegen Lila – nicht einem wichtigen yogischen Grundgedanken:
Geht es im Yoga nicht gerade darum, Polaritäten aufzulösen, das Verbindende zu stärken, die übergeordnete Harmonie zu erkennen?
„Jede Art von Spaltung bringt Probleme mit sich“, betont auch R. Sriram im Interview, dennoch befürwortet er es, klar Stellung zu beziehen. Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Wir können uns im Namen der Politik mit Einstellungen und Handlungen auseinandersetzen, sollten uns aber nicht gegen Menschen wenden, vor allem nicht nur, weil sie eine andere Meinung vertreten als wir.
Etwas anderes ist vielleicht noch entscheidender:
Wir denken und handeln immer aus dem Kosmos der eigenen begrenzten Wahrheit heraus – und es ist essenziell, dass wir um diese Begrenzung wissen.
Im Yoga Sutra heißt es, dass Unwissenheit oder eine fehlgeleitete Sicht auf die Dinge wichtige Hindernisse auf dem spirituellen Weg sind. Wir sind also aufgerufen, unser eigenes Richtig und Falsch als genau das zu erkennen, was es ist – unser eigenes.
Das heißt nicht, dass man Ethik beliebig interpretieren kann. Nur sollten wir unsere eigenen Werte und Überzeugungen nicht mit einer universellen Wahrheit verwechseln. Gerade weil die Zeiten mal wieder so besonders unübersichtlich sind, scheinen viele Menschen die Wahrheit gepachtet zu haben: Sie haben Gewissheit über den Krieg in der Ukraine, äußern sich versiert zu den Geschehnissen in Israel-Palästina, zum Klimawandel, den Revolten in der Sahelzone und zu China sowieso.
Dabei scheint es obligatorisch, ein eigenes „Richtig“ zu definieren und daraus ein ebenso klares „Falsch“ der „Anderen“ abzuleiten. Zweifel haben keinen Platz – und entsprechend schwierig wird politischer Konsens. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Wie kommt das?
Das Prinzip des Gleichgewichts
Scheinbare Gegensätze prägen unser Leben und der erste Impuls ist oft, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Diese Sehnsucht nach einem einfachen Richtig-falsch ist eine zutiefst menschliche, aber sie grenzt wesentliche Teile des Meinungsspektrums zwangsläufig aus.
„Jeder hat recht, aber nicht ganz“, heißt es dagegen in der integralen Theorie von Ken Wilber. Auch im Yoga kennen wir das Prinzip des Gleichgewichts gegensätzlicher Kräfte, zum Beispiel in Sthira Sukham Asanam, dem Ausgleich von Anstrengung und Mühelosigkeit, von Stabilität und Leichtigkeit. Dabei geht es nicht um ein schulterzuckendes „Mir doch egal“ – ganz im Gegenteil. Wir lernen, die Balance zu halten, unsere Mitte zu finden und uns aus dieser inneren Balance heraus vom Richtig und Falsch aller anderen nicht beeindrucken zu lassen.
Jeder Mensch kann und darf für sich selbst stehen. Nicht im Sinn einer starren Beharrung, sondern im Sinne von Viveka:
Wir bemühen uns um Klarheit und Unterscheidungsfähigkeit, erforschen unsere eigenen Antreiber und Glaubenssätze.
Das ist keine kleine Sache. Auch unter Druck, inmitten von Angst, Polemik und Krisen, die Antriebe unserer Handlungen zu verstehen und darüber Rechenschaft ablegen zu können – sie aus unserem ganzen Sein heraus begründen zu können, fordert uns sehr viel ab.
Wenn wir das nicht können, dann folgen wir einem Kollektiv und machen uns Meinungen zu eigen, die in Resonanz mit irgendetwas sind, das wir meist gar nicht genau verstehen. Wir tun, was „richtig“ genannt wird, weil es sich besser anfühlt, dazu zu gehören.
In diesem Sinn wäre eine ernsthafte Yogapraxis zutiefst politisch:
Wir schaffen Raum zwischen Impuls und Handlung, wir hinterfragen unsere inneren Impulse und Motive, statt Headlines, Bildern und Wortführer*innen hinterherzulaufen. Wir halten inne, spüren nach und merken, was gerade jetzt wirklich von uns verlangt wird. Wir können (und in diesem Fall, finde ich, wir müssen) uns fragen: Wofür stehe ich eigentlich wirklich ein – was bedeutet für mich Demokratie, was bedeutet für mich „rechts“ und wo in meinem Umfeld erlebe ich tatsächlich Umstände, gegen die ich mich wenden möchte?
„Bewusstheit ist die Grundlage, um abwägen zu können, wo ich mich einsetze und wo ich mich zurückhalte.
Es geht ja auch darum, ein anpassungsfähiges Gehirn zu entwickeln“, sagte Anna Trökes im Interview zu ihrem Statement. Und sie zitierte den Dalai Lama: „Ich gebe niemandem das Recht, die Ruhe meines Geistes zu stören.“
Die brauche man, um klar abwägen zu können. Als Yogi*ni nehmen wir also ruhig und bewusst unsere Haltung ein und wissen: Wie ich mich zur Welt stelle, hat immer einen Bezug zur Gemeinschaft und ist damit ein Politikum.
Und dann ist da noch Ahimsa
Gandhi, der den ihm zugewiesenen Ehrentitel „Mahatma“ nie selbst führte, war wohl der bekannteste Vertreter der Gewaltlosigkeit und hat die yogische Idee von Ahimsa im Westen bekannt gemacht. Für viele Yogaübende ist sie eine wichtige Basis auf ihrem Yogaweg, und auch ich chante nach dem Üben das „Om Shanti Shanti Shanti“, das uns zu umfassendem Frieden aufruft.
Wenn wir Politik als die Kraft verstehen, die das Zusammenleben der Gemeinschaft regelt, dann wäre ein friedliches Zusammenleben wohl das Ziel erfolgreicher Politik. Andererseits machen Menschen Politik – und sie machen auch Krieg. Folglich fängt Frieden bei jedem einzelnen Menschen an, der sich weigert, im Krieg zu sein. Und zwar im Großen wie im ganz, ganz Kleinen.
Wie oft am Tag sind wir im Widerstand, in der Abwehr, wie oft fühlen wir uns im Recht, wie oft kämpfen wir um dieses Recht? Tausend Mal? Mehr? Egal, ob es um Partnerschaft, Job, Parkplatz oder Zahnpastatube geht – wir glauben, unseren Platz in der Welt behaupten zu müssen. Was passiert, wenn du diesen Kampf aufgibst?
Solange wir in der Abwehr, im Misstrauen sind, tragen wir zum Unfrieden bei. Da brauche ich kein „Gesetz der Anziehung“ zu bemühen, das erschließt sich dem gesunden Menschenverstand. Wenn wir beginnen, den reflexhaften Widerstand zugunsten von Freundlichkeit und einer mitfühlenden Neugier aufzugeben, dann praktizieren wir Ahimsa und können viel zum Frieden beitragen.
Der Gutmensch in der Yoga-Shala
„Frieden ist keine Hoffnung, Frieden ist ein Tun“, so oder ähnlich soll es Thich Nhat Hanh gesagt haben. Dazu gehört auch die Einsicht, dass Ahimsa und überhaupt die yogische Ethik kein Automatismus ist. Es gibt Menschen, die üben jahrzehntelang, reisen von Retreat zu Retreat und verbreiten dort Unfrieden, weil sie einem aufgeblasenen Ego verhaftet bleiben.
Die eitle Überzeugung, ein Gutmensch zu sein, macht nicht Halt vor der Tür der Yoga-Shala und kann etwas sehr Selbstgerechtes und Überhebliches an sich haben. (Das sage ich durchaus selbstkritisch.) Was wäre, wenn wir aufhören könnten, andere beeindrucken zu wollen, indem wir uns weiser, schlauer oder stärker zeigen?
Demut ist eine Haltung, die die prahlerischen Kräfte des Ego neutralisiert. Sie resultiert aus Vertrauen, aus der Bereitschaft zu akzeptieren, was notwendig ist, und aus der Hingabe an das, was unperfekt oder sogar richtig schlimm ist in unserem Leben, in dieser Welt.
Hier öffnet sich eine weitere politische Dimension des Yoga-Weges: das Nicht-Anhaften.
Ich kann Erwartungen loslassen und mein Wollen in den Kontext des großen Ganzen, der übergeordneten Harmonie stellen:
Ich verstehe, dass ich vielleicht nur wenig oder nichts beeinflussen kann und handele trotzdem aus dem Verständnis heraus, dass ich sowohl für mein Tun als auch für mein Nicht-Tun vollumfänglich verantwortlich bin.
Ich spare mir „man müsste mal“ oder „die da oben sollten“ und überlege, was mein Beitrag, meine Rolle im großen Ganzen sein könnte. Zugleich verstehe ich, dass ich selbst nicht frei bin von Anhaftungen und Begierden und überprüfe mein Denken und Handeln immer wieder darauf hin. Ich nehme mir Zeit und Ruhe, Raum für Zweifel.
Ich weiß: Selbst-Erkenntnis ist meine wichtigste politische Kraft.
Andrea Goffart hatte als Autorin dieses Textes den Mut, sich der Komplexität dieses wichtigen Themas zu stellen.
Als Schreib-Coach sagt sie: „ich glaube, dass jedes Schreiben politisch ist –
auch oder gerade, wenn wir es nur für uns selbst tun.